Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

611

Irrenrecht

eines Pensionärs setzt voraus 1) eine ärztliche Bescheinigung der Zweckmäßigkeit der Aufnahme vom mediz. Standpunkt, 2) die schriftliche Einwilligung des Pensionärs selbst, die, wenn er einen gesetzlichen Vertreter hat, von diesem zu genehmigen ist. Die Aufnahme ist auch hier binnen 24 Stunden bei der Ortspolizeibehörde der Anstalt anzuzeigen. Anträgen auf Entlassung muß, wenn sie von den gesetzlichen Vertretern der Pensionäre ausgehen, in jedem Fall entsprochen werden. Ablehnung eines vom Pensionär selbst gestellten Antrags darf nur stattfinden, wenn der Anstaltsvorstand zugleich das Verfahren der Zwangsaufnahme einleitet. Die Entlassung ist der Ortspolizei zu melden.

Bezüglich der Behandlung der Kranken gilt: der Unternehmer hat dem leitenden Arzt zu überlassen und zu übertragen 1) die Anordnung der Isolierung, abgesehen von Notfällen, wo nachträgliche ärztliche Genehmigung erforderlich ist, sowie die Eintragung jedes Falls von Isolierung in ein besonderes Buch; 2) die Anordnung etwaiger mechan. Beschränkungen durch sog. Jacken u. s. w. sowie die Eintragung jedes solchen Falls und des Grundes der Anordnung in ein besonderes Buch; 3) die Anordnung der einzelnen Kranken zu gewährenden besondern Kost und Verpflegung; 4) die Bestimmung über die gesamte Thätigkeit des Wartepersonals in der Krankenpflege; 5) die Beantwortung aller Anfragen von Behörden u. s. w. über den Zustand der Kranken. Außerdem darf der Unternehmer Verlegung von Kranken auf eine andere Abteilung, ihre Beschäftigung und die Regelung ihrer Beköstigung sowie die Verteilung des Wartepersonals nur mit Zustimmung des leitenden Arztes vornehmen.

In ähnlicher Weise sind auch in Bayern, Sachsen und Württemberg neuerdings die Vorschriften über Unterbringung in Irrenanstalten zur Sicherung der Interessen der dadurch betroffenen Personen einer Revision unterstellt worden. In Bayern ist sogar durch Ministerialverordnung vom 3. Dez. 1895 jede Aufnahme in eine Privatirrenanstalt nicht, wie in Preußen in der Regel, nur an eine nachgängige Anzeige, sondern an eine vorgängige Genehmigung der Distriktspolizeibehörde (Bezirksamtmann) geknüpft. Und dieser Genehmigung muß nicht allein eine Konstatierung des gestörten Geisteszustandes seitens eines deutschen Arztes (gegründet auf persönliche Untersuchung innerhalb der letzten vier Wochen), sondern außerdem seitens der Distriktspolizeibehörde des letzten Aufenthaltsorts der aufzunehmenden Person auf Grund selbständiger Erhebungen vorausgehen. Ferner ist zustimmende Erklärung des gesetzlichen Vertreters oder Vormundes, in deren Ermangelung der nächsten Angehörigen (Ehegatten, Kinder u. s. w.) erforderlich. Die Behörde selbst holt das Gutachten des Bezirksarztes ein.

Für die öffentlichen Irrenanstalten sind inhaltlich in der Hauptsache übereinstimmende Vorschriften über Leitung, Aufnahme, Entlassung und Aussicht in den Statuten der einzelnen Anstalten erlassen. Die öffentlichen Irrenanstalten sind in Österreich alle Landesanstalten, also Anstalten der Kronländer (1890: 24 mit 9000 Betten gegen 6 Privatirrenanstalten mit 479 Betten), in Preußen meist solche der Landarmen-(Provinzial-) Verbände, in Bayern freiwillige Einrichtungen der Kreise.

Hinsichtlich solcher Irrsinnigen, die nicht in Anstalten untergebracht sind, ist überall den Ortspolizei- und Medizinalorganen die Überwachung der Pflege zur Pflicht gemacht. Eventuell haben sie die zwangsweise Einschaffung der Kranken in Anstalten zu veranlassen. Die Kosten der Anstaltsverpflegung armer Geisteskranker haben die Unterstützungswohnsitzgemeinden mit Unterstützung durch Kreis- und Provinzialverbände zu tragen (preuß. Gesetz vom 11. Juli 1891).

Mit den vorstehenden Neuerungen sind die hauptsächlichsten Forderungen einer Reform des Irrenrechts (s. d., Bd. 9) erfüllt. Die auf dem Gebiete der Entmündigung liegenden wird die 1898 zu erwartende Novelle zur Civilprozeßordnung bringen. Im Hinblick darauf hat der Reichstag bereits 1. Juli 1896 eine Resolution angenommen, wonach die von dem zu Entmündigenden angebotenen Gegenbeweise erhoben werden müssen, ein Wunsch, dem bisher schon durch entsprechende Weisungen der Justizministerien an die Gerichte nachgekommen war. Die Erfüllung einer letzten Forderung bringt der Entwurf der neuen mediz. Prüfungsordnung (vom Juni 1896) mit der Aufnahme der Psychiatrie unter die obligatorischen Prüfungsgegenstände des ärztlichen Approbationsexamens. Unerfüllt bleiben freilich, weil über das Bedürfnis hinausgehend, die sog. Göttinger Thesen, Vorschläge zur Irrenreform, die von Männern verschiedener Berufsarten und verschiedener Parteien aus Preußen, Sachsen und Baden 21. Nov. 1894 in Göttingen vereinbart wurden. Sie verlangen Übertragung der Entmündigung von den Amtsgerichten an landgerichtliche Entmündigungskammern, die aus einer Civilkammer (also drei Richtern) und vier Laienbeisitzern bestehen sollen; dabei soll der zu Entmündigende durch das Gerichtspersonal in Abwesenheit der Anstaltsärzte zu vernehmen sein. Der Entmündigte soll die Wahl seines Vormundes haben. Der strafrechtliche Begriff der falschen Anschuldigung soll auf die Behauptung von Thatsachen ausgedehnt werden, die, wenn sie wahr wären, eine Entmündigung oder Unterbringung in eine Irrenanstalt zur Folge hätten. Der in eine Irrenanstalt Eingelieferte soll das Recht des Einspruchs an ein besonderes Irrenaufsichtsamt (für jedes Oberlandesgericht eins, bestehend aus einem Richter, einem Verwaltungsbeamten, einem Geistlichen und fünf gewählten Vertrauensmännern) haben, dem überhaupt die Aufgabe zukommen soll, die Interessen der Irren wahrzunehmen. Welche Bedeutung übrigens der Frage der Irrenreform zukommt, mag daraus erhellen, daß allein in Preußen die Zahl der Anstaltsirren von 1880 bis 1891 von 25568 auf 45407, also um 77,6 Proz. gestiegen ist.

Vgl. Schröder, Zur Reform des I. (Zür. und Lpz. 1891); Lähr, Zur Reform des Irrenwesens in Preußen (Berl. 1893); Berichte des Vereins der deutschen Irrenärzte zur Reform des Irrenwesens in Preußen und des Verfahrens in Entmündigungssachen wegen Geisteskrankheit (Münch. 1893); Engelmannn, Zur Reform des I. (ebd. 1894); Scholz, Über Fortschritte in der Irrenpflege (Lpz. 1894); ders., über Reform der Irrenpflege (ebd. 1896); Erlenmeyer, Unser Irrenwesen, Studien und Vorschläge zu seiner Reorganisation (Wiesb. 1896); Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 52 (Berl. 1896), S. 818 fg.

Auch in England hat die Gesetzgebung der Jahre 1889-91 das I. vollständig umgestaltet; es ist jetzt in einer sehr vollständigen Weise organisiert