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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Socialdemokratie
ersten Wahlgange die meisten Stimmen erhalten hat,
vorausgesetzt, daß er das von der Fraktion provi-
sorisch festgesetzte Einigungsprogramm anerkennt:
"Abschaffung des Kapitalismus aus dem Wege der
Eroberung der polit. Macht durch das Proletariat,
Ersetzung des kapitalistischen Eigeutums durch das
gesellschaftliche und internationales Zusammengehen
der Arbeiter". An den Senatswahlen soll sich die
Partei in Zukunft ebenso beteiligen wie an andern
Wahlen. Auf dem Kongreß wurde eine Föderation
der socialistischen Gemeindevertreter beantragt, und
die anwesenden Vertreter der 110 Gemeindcräte be-
schlossen, allen socialistischen Gemeinderäten folgende
Punkte als zunächst anzustrebende zu bezeichnen:
Achtstundentag und Lohnminimum in allen kom-
munalen Arbeiten; Abschaffung des Zwischenunter-
nehmertums ; unentgeltliche ärztliche Hilfe und Ge-
meindeapotheken zum Verkaufe von Arzneien zum
Selbstkostenpreis. Neben das Kommunalprogramm
und das Agrarprogramm setzte der Kongreß zum
Schutze der Matrosen, der Schiffs- und Fischerei-
arbeiter ein drittes Epecialprogramm, das "pro-
gramme maritime" (Maximalarbeitstag, Lohnmini-
mum u. s. w.). Einen Zwischenfall rief ans diefem
Kongreß das Erfcheinen der deutschen Socialdemo-
kraten Liebknecht, Vebel und Singer hervor, die
von der nicht der S. angehörigen Bevölkerung Lilles
mit lebhaftem deutschfeindlichem Protest empfangen
wurden, so daß sie beim feierlichen Zuge anf Seiten-
wegen nach dem Rathause gebracht werden mußten.
Mitte Sept. 1896 tagte in Tours der 5. Gewerk-
schaftskongreß der franz. Arbeiter. 75 Delegierte
sür 216 freie Organisationen und 821 Syndikate
waren anwefend. Befchlossen wurden die Statuten
eines Allgemeinen Arbeiterbundes mit dem Sitze
in Paris. Ferner sprach man sich für den Acht-
stundentag, Minimallöhne, sowie für den General-
streik als äußerstes Kampfmittel aus, zu dessen Vor-
bereitung ein unter der Kontrolle des Allgemeinen
Arbeiterbundes stehendes Komitee geschaffen wurde.
England. Bei den Wahlen des I. 1895 wurde
kein einziger socialdemokratischer Kandidat gewühlt.
Keir tzardie, der Führer der Inäc^ßnäsnt I^dor
I^ai-t)', verlor das Mandat, das er im Parlament
1892 für South-West-Ham bekleidet hatte. Die
28 Kandidaten, die diese Partei aufgestellt hatte,
erhielten im ganzen 46000 Stimmen, und die
^ooial Denwci'atie I^äelktion konnte für ihre vier
Kandidaten nur 3730 Wähler finden. Die als sog.
Arbeitervertreter in das Parlament gewählten De-
putierten sind als Parteigänger oder Alliierte der
Liberalen gewählt; so auch John Burns (s. d.), der
aus der 8ocia1 1)6mocratio I^eäsration ausgetre-
ten war. - Vgl. P. de Nousiers, 1^ liuoLtion
ouvriei-6 en ^n^leterro (Par. 1895).
Belgien. Äußerordentliche Erfolge hatte die
S. bei den bclg. Gemeinderatswahlen, die 19. Nov.
1895 stattfanden, errungen; bei dieser ersten nach
stimmen) gelang es der S., in 78 Gemeinden die
Majorität zu erlangen, und infolge der Proportional-
vertretung, die in Kraft tritt, wenn kein Kandidat
die absolute Majorität erreicht hat, in 210 Kom-
munen eine socialistische Minorität durchzusetzen.
Dagegen ist die Anzahl der socialdemokratischen
Abgeordneten bei den Wahlen zur Repräsentanten-
kammer 5. Juli 1896, bei der die Neuwahl sür 77
Abgeordnetensitze vorzunehmen war, nicht über die
bereits 1894 Gewählten hinzugelangt.
Niederlande. Die socialdemokratische Arbeiter-
partei der Niederlande, die sich von dem unter Domela
Nieuwenhuis' Führung stehenden Bund der Social-
demokraten losgemacht und sich 1894 als eigene
Partei konstituiert hatte, hielt in derOstcrwoche 1895
ihren ersten Kongreß ab. Im ganzen zählt die
Partei 27 Abteilungen mit etwa 700-800 Mit-
gliedern. Diese Partei wird auch fernerhin an den
internationalen socialistischen Kongressen teilnehmen,
während die unter Führung Domelas stehenden Ver-
eine sich in Zukunft davon ausschließen zu wollen
erklärt haben. lS. Internationale Arbeiterkongresse.)
Schweiz. Der Parteitag der schweizerischen S.,
der 21. und 22. Dez. 1895 in Bern stattfand, hat
die Revision des Parteiprogramms von 1888 be-
schlossen; Anlaß dazu gab der Antrag der Ober-
wiler Mitgliedschaft, der die Wünschbarkeit der Ver-
staatlichung aller Produktionsmittel als unhaltbar
und insbesondere den Staatsbetrieb der Landwirt-
schaft als einen ökonomischen Rückschritt erklärte,
weil die auf diesem Gebiete besonders unentbehrliche
Selbstthütigkeit eingeengt und an ihre Stelle eine
kostspielige bureaukratifche, sich notwendig verhaßt
machende Verwaltung gesetzt werden würde. Es
sollte vielmehr die genossenschaftliche Organisation
im Sinne socialistischer Principien angestrebt wer-
den. Es wurde eine Kommission zur Revidierung
des Parteiprogramms gewählt; der nächste Partei-
tag soll 1897 in Winterthur abgehalten werden.
Dänemark. Die dän. socialdemokratische Partei
feierte in der Woche vom 18. bis 25. Juli 1896
ihr 25jähriges Jubiläum. Es waren 126 Dele-
gierte, die 98 Vereine mit 50000 Mitgliedern ver-
traten, angemeldet. Der Kongreß nährn ein Mani-
fest an, in dem die Hauptforderungen an die Gesetz-
gebung zusammengestellt werden (Achtstundentag,
Arbeitslosenversicherung u. s. w.). Die socialdemo-
kratische Partei zählt im ganzen 104 Vertreter in
öffentlichen Stellungen, nämlich als Reichstagsab-
geordnete, Mitglieder in Gemeindeverwaltungen
u. s. w. In Kopenhagen hat die Zahl der social-
demokratischen Stimmen wie folgt zugenommen:
1872 1884 1887 1890 1892 1895
315 6806 8409 17 232 20098 25019
Im Folketing hat die Partei 8 Vertreter, im
Landsting (Oberhaus) 2. Die Partei ist in 952
Vereinen organisiert, von denen 713 Fachvereine
mit 42000 Mitgliedern sind. Die 239 polit. Vereine
haben etwa 23000 Mitglieder. Die Verbindung der
dänischen S. mit der bürgerlichen radikalen Linken hat
sich während der letzten Folketingwahlen gelöst.
Schweden. Bei den Wahlen von 1896 gelangte
der erste socialdemokratische Vertreter in die zweite
Kammer des schwed. Reichstags.
Italien. Die Zahl der socialdemokratischen
Abgeordneten im ital. Parlament beträgt seit 1895
15. Die italienifche S. hielt ihren vierten Landes-
kongreh vom 11. bis 13. Juli 1896 in Florenz ab.
300 Delegierte waren anwesend. Der Parteibericht
giebt die Zahl der socialdemokratischen Organisa-
tionen auf 442 in 420 Gemeinden an mit 19121
Mitgliedern, die Zahl der Parteijournale auf 27.
Die Zahl der abgegebenen Stimmen war von
26229 (1892) auf 70558 <1895) gestiegen. In der
Agrarfrage sprach der Kongreß sich dafür aus,
Kampforganisationen der Teilpächter (me^acli-i) zu
bilden, um ihnen bessere Pachtbedingungen zu ver-
schaffen, sowie Konsumvereine gemeinsam mit der
Arbeiterbevölkerung. Sitz der Parteileitung bleibt