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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Belgien

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Belgien (Verwaltung, Wohlthätigkeitsanstalten, Rechtspflege).

auf ihr Verlangen gehört werden. Sie sind verantwortlich und können von der Kammer der Repräsentanten angeklagt werden. Der König kann einen durch den Kassationshof verurteilten Minister nur auf Verlangen einer der beiden Kammern begnadigen. Die Provinzial- und Gemeindeverfassung Belgiens stellt Provinz und Gemeinde als selbständige Autoritäten hin, die nur insofern einer Einwirkung der Zentralgewalt unterliegen, als ihre Beschlüsse Veranlassung zu Konflikten mit den allgemeinen Interessen des Landes geben können. Die Grundzüge der Provinzialverfassung bestehen nach dem Provinzialgesetz vom 30. April 1836 (zuletzt 13. und 16. Mai 1878 abgeändert) in folgenden Bestimmungen. In jeder Provinz bestehen ein Provinzialrat und ein Kommissar der Regierung, welcher den Titel Gouverneur führt und vom König ernannt und abgesetzt wird. Das Wahlrecht zum Provinzialrat steht jedem Belgier zu, welcher 21 Jahre alt ist und 20 Fr. an direkten Steuern bezahlt. Der Provinzialrat wählt aus seiner Mitte einen beständigen Ausschuß von sechs Mitgliedern, welcher unter dem Präsidium des Gouverneurs alle Funktionen und Rechte des Provinzialrats vertritt, deren Vollziehung keinen Aufschub gestatten. Wahlfähig sind die, welche zur Wahl für die Repräsentantenkammer geeignet sind, mindestens seit 1. Jan. des Jahrs, in welchem die Wahl stattfindet, in der betreffenden Provinz ihren Wohnsitz haben und weder zu den Verwaltungs- noch zu den Finanzbeamten der Provinz gehören. Der Provinzialrat versammelt sich jährlich in dem Hauptort der Provinz am ersten Dienstag des Monats Juli zu ordentlicher Session; der König kann in außerordentlicher Weise zusammenberufen. Die Dauer der ordentlichen Sitzung ist 14 Tage, kann aber ohne Zustimmung des Gouverneurs nicht um mehr als 8 Tage verlängert werden. Der Provinzialrat ernennt die Provinzialbeamten, reguliert die Rechnungen der Provinz und stellt ihr Budget fest. Er verteilt das Kontingent der direkten Steuern unter die Gemeinden und erläßt die Reglements für die innere Verwaltung und die öffentliche Polizei in der Provinz. Seine Beschlüsse sind in finanziellen und Verwaltungsangelegenheiten der königlichen Bestätigung unterworfen. Die Aufhebung eines solchen Beschlusses von seiten der Krone muß aber innerhalb 40 Tagen, nachdem er gefaßt ist, geschehen. Die Provinzialräte werden auf 4 Jahre ernannt und von 2 zu 2 Jahren zur Hälfte erneuert. Der Gouverneur der Provinz allein ist mit der Ausführung der vom Rat oder vom Ausschuß gefaßten Beschlüsse beauftragt. Der Gouverneur wacht ferner über die Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung in der Provinz; er verfügt zu diesem Zweck über die Bürgergarde und die Gendarmerie und kann die bewaffnete Macht requirieren. An der Spitze eines jeden Verwaltungsdistrikts (Kantons) der Provinz steht ein königlicher Kommissar (commissaire d'arrondissement), welcher unter der Oberaufsicht des Gouverneurs und des beständigen Ausschusses die Verwaltung in den Gemeinden, deren Einwohnerzahl nicht 5000 Seelen übersteigt, beaufsichtigt und über die Vollziehung der Gesetze etc. wacht. Die Gemeindeverfassung stützt sich auf das Gemeindegesetz vom 30. März 1836 (zuletzt 22. Juni 1877 revidiert). Die Gemeindeobrigkeit besteht in jeder Kommune aus dem Gemeinderat, dem Bürgermeister und den Schöffen. Bei einer Bevölkerung bis 20,000 Seelen hat die Gemeinde 2 Schöffen, bei mehr 4. Der Gemeinderat mit Bürgermeister und Schöffen hat 7 Mitglieder in Gemeinden bis zu 1000, 9 in Gemeinden bis zu 3000, 11 in Gemeinden bis zu 10,000, 13-17 in Gemeinden zwischen 10,000 und 25,000 Seelen. In noch größern Gemeinden nimmt der Gemeinderat um je 2 Mitglieder für 5000 Seelen zu; steigt die Zahl über 40,000, so vermehrt er sich um 2 Mitglieder nur für jede fernern 10,000 Seelen. Alle Belgier, die 21 Jahre alt, im Besitz der bürgerlichen Rechte, in der Gemeinde wohnhaft sind und 10 Fr. an direkten Steuern entrichten, sind Gemeindewähler. Die ganze Gemeindeverfassung ist nach dem Vorbild der Provinzialverfassung geregelt; die Attributionen des Bürgermeisters entsprechen denen des Gouverneurs.

Die Wohlthätigkeitsanstalten, die von Provinzen und Gemeinden unterhalten werden, sind sehr zahlreich. Die Bürgermeister und Schöffen in jeder Kommune sind verpflichtet, ein sogen. Wohlthätigkeitsbüreau zu halten; in Gemeinden über 2000 Einw. müssen Wohlthätigkeitskomitees die Armen in ihren Wohnungen unterstützen. 1880 bestanden 180 anerkannte Unterstützungsvereine auf Gegenseitigkeit mit einem Vermögen von 1⅙ Mill. Fr. Hervorzuheben sind: Taubstummen- und Blindeninstitute (11: in Antwerpen, Brüssel, Woluwe-Saint Lambert, Gent, Brügge, Lüttich, Namur, Bouges lez Namur, Maeseyk), Irrenhäuser, Gebär-, Findel- und Waisenhäuser, Kinderbewahranstalten, Anstalten für Augenkranke, die Irrenkolonie zu Gheel (wo die Kranken gegen Entgelt bei den Bauern untergebracht werden), Lehr- und Arbeitshäuser für Arme, Bettler- und Landstreicherhäuser, Versorgungs- und Versicherungsanstalten, Leihhäuser (20) etc. Was die Paupertätsverhältnisse anlangt, so ist in Westflandern der 8. Mensch ein Hilfsbedürftiger, in Ostflandern der 16., im Hennegau der 20., in Limburg der 24., in Lüttich der 28., in Brabant der 36., in Antwerpen der 41., in Namur der 91., in Luxemburg der 660. Mensch.

In betreff der Gerichtsverfassung und Rechtspflege ist zu bemerken, daß die Streitigkeiten über bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte in erster Instanz vor die Ziviltribunale (26 an der Zahl), deren Richter vom König ernannt werden, in zweiter Instanz vor die Appellhöfe (3 an der Zahl, zu Brüssel, Gent und Lüttich) gehören. Polizeivergehen werden von den Zuchtpolizeigerichten abgehandelt. Daneben bestehen ein Militärgerichtshof, zahlreiche Handelsgerichte, 204 Friedensgerichte sowie Sachverständigenräte (conseils de prud'hommes); Assisenhöfe gibt es 9. Für alle Kriminalsachen sowie für politische und Preßvergehen ist das Geschwornengericht angeordnet. Für ganz B. besteht ein Kassationshof zu Brüssel, welcher, mit Ausnahme der Ministerprozesse, nicht über die Materie der Rechtssachen erkennt. Die Räte der Appellhöfe, die Präsidenten der ihnen untergeordneten Tribunale werden vom König nach einer doppelten Liste ernannt, die von diesen Gerichtshöfen selbst und von den Provinzialräten eingereicht wird. Die Räte am Kassationshof ernennt der König aus einer vom Senat und vom Kassationshof verfaßten Liste. Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt und können nur durch Urteilsspruch ihres Amtes entsetzt oder suspendiert werden. Seit der französischen Herrschaft gelten in B. der Code Napoleon und die französischen Gesetze aus der Zeit von 1795 bis 1814, welche nur teilweise örtliche Abänderungen erlitten haben. Die unter der holländischen Herrschaft aufgehobene Jury wurde schon 1831 wiederhergestellt und nach den neuen Grundlagen organisiert. Die Modifikationen, welche der Code pénal 1832 in Frankreich erfuhr, veranlaßten auch in B. eine Revision desselben. Das