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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bildhauerkunst

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Bildhauerkunst (Geschichte).

stande ist. Das vollendete, noch feuchte Thonmodell wird in Gips abgegossen, da der Thon beim Trocknen seine Form verändert. Hierauf schreitet der Künstler zum zweiten Teil seiner Aufgabe, zur Übertragung des im Modell fertig vor ihm stehenden Werkes in das bestimmte Material. Diese Arbeit gestaltet sich verschieden, je nachdem dieses Material sich mit schneidenden Werkzeugen behandeln läßt, wie Holz, Elfenbein oder Stein, oder mittels des Gusses in Metall ausgeführt werden soll. Über letzteres Verfahren s. Bronzeguß. Bei der Übertragung in Stein, besonders Marmor, wird folgendermaßen verfahren. Der Marmorblock, der im allgemeinen dieselben Dimensionen hat wie das Modell, wird auf einer soliden Grundlage so festgestellt, daß nicht die mindeste Verrückung zu befürchten steht. Um zu erfahren, wieviel man davon weghauen muß, wendet man die Methode des Punktierens an. Man stellt zu diesem Behuf Modell und Block möglichst nahe nebeneinander und bringt über jenem einen viereckigen, bis über die am weitesten vorspringenden Punkte der Figur übergreifenden Rahmen an, dessen Seiten in eine bestimmte Anzahl gleicher Teile eingeteilt werden, die man numeriert; sodann bringt man über dem Marmorblock, wenn die Statue ebenso groß wie das Modell werden soll, einen ebenso großen und auf dieselbe Weise eingeteilten, wenn die Statue aber kleiner oder größer werden soll als das Modell, einen verhältnismäßig kleinern oder größern Rahmen an. An allen Teilungspunkten läßt man Bleilote herabhängen, die dann feste Anhaltspunkte für die Übertragung eines jeden Punktes des Modells auf die richtige Stelle des Blockes abgeben. Man fängt bei den die Gestalt ihrem Umriß nach am allgemeinsten bezeichnenden Punkten (Leitpunkten) an, welche man am Modell durch kleine Messingnägel mit breitem Kopf zu bemerken pflegt. Diese Punkte werden dann auf den Block übertragen, indem man den horizontalen und vertikalen Abstand eines jeden Punktes von den Fäden mißt und diese Maße mit Bleistift auf die Flächen des Blockes überträgt. Hierauf mißt man die Entfernung jedes Punktes von dem entsprechenden Faden nach der Tiefe, bohrt an den bezeichneten Punkten des Blockes mit dem Marmorbohrer ebenso tief ein und schlägt dann die überflüssige Masse hinweg, so daß die Gestalt in den ihre Umrisse umgebenden ebenen Flächen herausgearbeitet wird. Dann fährt man in ähnlicher Weise fort, indem man am Modell immer mehrere der zwischen den Leitpunkten liegenden Punkte mit Bleistift bezeichnet, deren genau gemessene Abstände von den Fäden und Leitpunkten auf die Flächen der grob ausgehauenen Gestalt überträgt und bis zu der erforderlichen Tiefe einbohrt, dann abermals den überflüssigen Marmor abschlägt und so die Gestalt ihren Hauptzügen nach herausarbeitet. Durch Fortsetzung dieses Verfahrens und fortwährende Vermehrung der Punkte kann man die Statue bis zu der Feinheit bringen, daß zuletzt der freien Überarbeitung, welche alles zwischen den Punkten stehen gebliebene Material zu entfernen hat, wenig zu thun übrig ist. Insofern aber die Arbeit des Punktierens eine durchaus mechanische ist, zu der weiter nichts gehört als zweckmäßige Auswahl der Punkte am Modell und Genauigkeit in der Messung und Übertragung derselben, ist sie nicht Sache des Künstlers, sondern wird bloß routinierten Arbeitern, Steinmetzen (ital. scarpellini), überlassen, häufig auch an Ort und Stelle des Marmorbruchs besorgt, wie z. B. in Carrara eine ganze Reihe von Werkstätten ist, worin Marmorstatuen für Bildhauer aller Orte in Punkte gesetzt werden. Dem Bildhauer bleibt somit nur die letzte Überarbeitung der Oberfläche übrig; bei dieser aber kommt es besonders auf fein ausgebildeten Formensinn an, wenn das Werk den Ausdruck individuellen Lebens erhalten soll. Ein andres, mehr auf wissenschaftlichen Prinzipien basiertes Verfahren ist in der neuesten Zeit in Aufnahme gekommen. Nach diesem bestimmt man mit Hilfe eines Instruments zuerst drei der erhabensten Punkte des Modells in ihrer gegenseitigen Distanz voneinander und ihrer verschiedenen Erhebung und bezeichnet dieselben Punkte nach Angabe desselben Instruments auf dem Stein, indem man so viel von seiner Oberfläche wegschlägt, bis man die genügende Tiefe erreicht hat. Von diesen drei Punkten gewinnt man sodann neue Punkte durch komplizierte Dreiecksmessungen, die man auf dieselbe Weise auf den Stein überträgt, und wiederholt dies so lange, bis alle wichtigern Punkte des Modells am Stein genau nach der Lage, die sie an jenem haben, angegeben sind. Man bedient sich dabei eines Krumm- oder Tasterzirkels. Hierauf beginnt erst die eigentliche Ausarbeitung des Steins, zuerst ins Grobe, dann feiner und ins Detail. Bei der Arbeit bedient man sich hauptsächlich verschiedener Arten von Meißeln, glättet dann mit Raspel und Feile und poliert zuletzt mit Bimsstein, Zinnasche, Schmirgel und Fischhaut. Vgl. Stegmann, Handbuch der Bildnerkunst (Weim. 1884); Uhlenhuth, Das plastische Kunstwerk (Berl. 1870); Derselbe, Anleitung zum Formen und Gießen (Wien 1879).

Geschichte der Bildhauerkunst.

(Vgl. die Tafeln "Bildhauerkunst I-X", mit Übersichtstabelle.)

Die ersten Anfänge der B. verlieren sich im Dunkel der Urzeit und erscheinen als formlose Gedächtniszeichen, die, nicht von Menschenhänden umgestaltet, sich als ein der Nachwelt überliefertes Andenken an Personen und Ereignisse noch auf den ehemaligen Schauplätzen der vergangenen Weltgeschichte vorfinden. Derartige Denkmäler sind die Monolithen Asiens, Afrikas und Amerikas, die keltischen Steinpfeiler der Bretagne etc. Charakteristische Versuche plastischer Darstellung sind uns in Denkmälern auf mehreren Inseln des Großen Ozeans, namentlich auf Rapanui und Hawai, erhalten. Eine höhere Stufe solcher Bildnerei nehmen die Werke der alten mittel- und südamerikanischen Völker, besonders die der Mexikaner, ein, deren frühste aber erst nach Christi Geburt entstanden sind. Man versuchte es, die Gottheit in menschlicher Gestalt darzustellen, was gewöhnlich zu wundersamen Bildungen führte, wozu allerdings das Streben, das Mächtige und Gewaltige der Gottheit darzustellen, nicht wenig beitragen mochte. Zahlreiche derartige Denkmäler finden sich zu Jochicalco, Palenque, Papantla, Tehuantepec und sonst (s. Tafel "Baukunst I", Fig. 1-3).

Die Bildhauerkunst des Orients.

Unter den Kulturvölkern findet sich bei den Ägyptern die älteste Ausbildung der B. Sie stand hier in enger Beziehung zur Architektur. Vor allem gilt hier das System der Polychromie, welches man fast überall in der ägyptischen Plastik berücksichtigt findet. Die tief geschnittenen, manchmal auch flach erhabenen Reliefs heben sich durch die Behandlung mit Farbe und gewinnen dadurch den Schein des Lebens, in dessen Nachahmung das Prinzip der B. liegt. Die Bildwerke der alten Ägypter sind in einem Grad wie keine andern für die Kenntnis der Geschichte des