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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Blutbewegung (Geschwindigkeit, Verteilung des Bluts, Einfluß des Nervensystems).

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Blutbewegung'

Spannung in den kleinen Arterien nur sehr wenig geringer als diejenige in der Aorta ist. Diese merkwürdige Thatsache wird dadurch bedingt, daß der Blutstrom durch Reibung nur sehr wenig von seiner Kraft einbüßt, weil die Arterien sich in der Weise teilen, daß der Gesamtquerschnitt derselben mit der Verzweigung erheblich zunimmt. Da der Blutstrom in den Venenanfängen nur noch unter einem sehr unerheblichen Druck steht, so ist es ersichtlich, daß derselbe in jenem kurzen und sehr engen Gefäßabschnitt, welchen man als Kapillargebiet bezeichnet, fast seinen ganzen Druck einbüßt. In diesem Abschnitt muß daher eine sehr bedeutende Reibung stattfinden, trotzdem das Gesamtlumen der Kapillaren mindestens das 500fache des Aortenlumens ausmacht. Der Blutdruck in der Karotis des Menschen wird auf ca. 200 mm Quecksilber geschätzt, beim Hund fand man ihn 88-172 mm, beim Pferd 110-321 mm Quecksilber gleich.

In den kleinen Venen ist noch ein geringer positiver Druck, in den großen, in der Nähe des Herzens gelegenen hingegen ein negativer Druck vorhanden. Öffnet man ein solches Gefäß, so tritt atmosphärische Luft in die Blutbahn ein. Dem größten negativen Druck begegnet man zur Zeit der Diastole in den Herzkammern; das Herz ist deshalb nicht allein als Druck-, sondern auch als Saugpumpe aufzufassen. Der Blutdruck ist übrigens innerhalb sehr weiter Grenzen von der Blutmenge vollkommen unabhängig, und weder durch sehr bedeutende Aderlässe noch durch Transfusion sehr großer Blutmengen unterliegt der mittlere Blutdruck merklichen Schwankungen; diese Erscheinung ist auf eine Einrichtung der Gefäßwandung zurückzuführen, vermöge deren dieselbe ihre Spannung dem Gefäßinhalt vortrefflich anzupassen vermag. Der Blutstrom pflanzt sich nun in Form von Wellenbewegungen im Arteriensystem fort, d. h. mit jeder Systole ist eine Druckvermehrung, mit jeder Diastole eine Druckverminderung verknüpft. Diese Wellenbewegung ist um so mächtiger, je näher am Herzen, und um so unbedeutender, je weiter vom Herzen entfernt die Arterien untersucht werden. Bei der Auflösung der kleinsten Arterien in das Kapillarsystem wird sie für gewöhnlich nicht mehr angetroffen. Sie ist am Anfang der Aorta fast synchronisch mit der Systole der Kammern und pflanzt sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 9 m in der Sekunde fort. Diese Größe hat mit der Geschwindigkeit des Blutstroms durchaus nichts zu thun. Die beschriebene Wellenbewegung bedingt den Puls (s. d.).

Neben der Herzbewegung als Ursache des Kreislaufs kommt noch die Aspiration des Thorax in Betracht. Das Herz und die großen Gefäßstämme liegen innerhalb der Brusthöhle in einem geschlossenen Behälter, in welchem ein negativer Druck herrscht, weil die Lungen selbst noch im Zustand der Exspiration weit über ihre elastische Gleichgewichtslage ausgedehnt sind. Jede Inspiration vergrößert durch eine noch stärkere Ausdehnung der Lungen diesen negativen Druck erheblich, und die Folge davon muß sein, daß die Wandungen der nachgiebigen Vorhöfe und Venen stärker auseinander gezogen werden. Letzterer Umstand wird ein Nachströmen neuen Bluts aus den außerhalb des Thorax gelegenen Venenstämmen bewirken, wodurch der Kreislauf wesentlich gefordert wird. Bei der Exspiration wird die inspiratorische Vergrößerung des negativen Druckes wieder in Wegfall kommen. Die Wirkung der Aspiration auf die Arterien ist wegen der stärkern Wandung dieser Gefäße weniger stark, doch ist dieselbe experimentell nachweisbar. ↔

Bei der Geschwindigkeit der B. ist zu berücksichtigen, daß der Gesamtquerschnitt der Gefäße mit der Verzweigung bedeutend zunimmt, so daß der Gesamtquerschnitt der Kapillaren ca. 500mal so groß ist als derjenige der Aorta. Da nun durch jeden Gesamtquerschnitt des Gefäßsystems in der Zeiteinheit dieselbe Blutmenge strömen muß, so ergibt sich, daß die Stromgeschwindigkeit den Gesamtquerschnittsgrößen umgekehrt proportional ist, d. h. also, daß sie z. B. in den Kapillaren 500mal kleiner sein wird als in der Aorta. Die Geschwindigkeit in den Kapillaren läßt sich durch direkte Messung der Ortsveränderung der Blutkörperchen bestimmen; E. H. Weber schätzt sie in den Kapillaren der Schwimmhaut des Frosches auf 0,5 mm in der Sekunde. Volkmann schätzt die Geschwindigkeit des Blutstroms in der Karotis des Hundes auf 200-350 mm pro Sekunde. In der Nähe des Herzens ist die Fortbewegung des Bluts also am stärksten, nimmt, je weiter vom Herzen entfernt, desto mehr an Schnelligkeit ab und geht am geringsten und ruhigsten im Kapillargefäßsystem vor sich. In den Anfängen der Venen wird der Lauf wieder beschleunigt; die Schnelligkeit nimmt in den Venen zu, je mehr sie dem Herzen sich nähern, und ist am bedeutendsten in den Hohladern. Nach Herings Versuchen würde der Kreislauf des Bluts schnell vollendet sein; derselbe fand nämlich, daß, wenn er in die Vena jugularis der einen Seite eines Pferdes Ferrocyankaliumlösung eintrichterte, die Reagenzien nach kaum ½ Minute dasselbe in der Vena jugularis der entgegengesetzten Seite anzeigten. Voraussichtlich zirkuliert nun das Blut nicht durch alle Körperteile in einer und derselben Zeit, sondern der Kreislauf aus der Arteria coronaria cordis durch das Herz selbst bis in den rechten Vorhof zurück ist vielleicht zehnmal vollendet, während sich der Lauf aus der Aorta durch die Gefäße der Fußspitzen bis durch die Vena cava inferior hindurch in den rechten Vorhof erst einmal vollendet hat. So stellt der Kreislauf zwar wohl einen allgemeinen Kreis dar, aber derselbe wird sich aus sehr vielen kleinen Kreisen zusammensetzen.

Was die Verteilung des Bluts im lebenden Organismus betrifft, so ist dieselbe schnellen und wesentlichen Schwankungen ausgesetzt. Dieses wird dadurch bedingt, daß die Weiterer Arterien außerordentlich veränderlich ist. An vielen Organen kann man direkt beobachten, daß sie zur Zeit der Funktion reichlicher mit Blut gespeist werden als sonst. So fließt z. B. zur Zeit der Muskelarbeit mehr Blut durch den Muskel, und so vermehrt sich zur Zeit der Verdauung der Blutstrom durch den Verdauungsapparat und seine Drüsen. Teilt man mit Ranke den ganzen Organismus ein in Drüsenapparat (gesamte Eingeweide) und Bewegungsapparat (Muskeln, Knochen, Nerven und äußere Haut), so kann man verfolgen, wie der Hauptstrom bald dem einen, bald dem andern Apparat angehört. Er geht durch den Drüsenapparat, sobald die Tiere mit hingestreckten Gliedmaßen in ruhiger Lage verharren; er passiert den Bewegungsapparat, sobald die Muskulatur zu kräftiger Bewegung angeregt wird. Der mittlere Gehalt des Muskelapparats betrug in der Ruhe 36,6 Proz. der Gesamtblutmenge, stieg aber im Starrkrampf auf 66 Proz.

Der Einfluß des Nervensystems auf die B. ist doppelter Art, da es nicht allein die Herzbewegungen, sondern auch die Weite der Gefäße beherrscht. Zwei Nerven bekunden einen Einfluß auf die Herzbewegung, nämlich der Herzast des Vagus und der Nervus accelerans cordis; der letztere setzt sich aus einigen feinen Nervenzweigen zusammen, die aus dem

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 63.