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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Blutung

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Blutung.

nötigen Widerstand entgegensetzen können, also einreißen müssen. Namentlich die spontane Zerreißung des Herzens und der großen Arterien beruht gewöhnlich aus fettiger Erweichung der genannten Organe. Aus demselben Grunde treten zur Gehirnerweichung gern Blutungen hinzu. Eine andre Ursache der B. beruht in der krankhaften Steigerung des Blutdrucks bei sonst gesunden Blutgefäßen, z. B. bei Herzkranken. Jede Blutüberfüllung einer Gefäßprovinz, mag dieselbe auf vermehrtem Zufluß oder auf verhindertem Abfluß des Bluts beruhen, kann zur B. führen. Für manche Blutungen suchen wir die Ursache in einer krankhaften Beschaffenheit bald der Blutmischung, bald der Gefäßwände, ohne dieselbe genauer bezeichnen zu können. Wir sagen in solchen Fällen, es bestehe eine Neigung zur B., eine hämorrhagische Diathese. Eine solche Krankheitsanlage besteht bei der Bluterkrankheit (s. d.), beim Skorbut, bei Typhus, Pocken, Scharlach, Masern, Leukämie etc. Die Anzeichen, welche eine B. erkennen lassen, sind bei äußerer B. zunächst das Blut selbst, welches bei arteriellem Ursprung oder bei Lungenblutung hellrot, bei Venenblutung dunkelrot und bei längerm Verweilen im Magen schokoladenbraun bis schwarz aussieht. Bei geringfügigem Erguß hat eine äußere B. keine weitere Bedeutung, während bei innerer B. weit weniger auf die Menge als auf den Sitz und die Lebenswichtigkeit des betroffenen Organs ankommt. Eine linsengroße B. in der Netzhaut des Auges kann Blindheit, eine kirschgroße B. im Streifenhügel des Gehirns Lähmung einer Körperhälfte, eine solche an der linken Stirnwindung Verlust der Sprache bedingen, während eine faustgroße B. in den Eierstock oft ganz symptomlos verläuft. Bei sehr reichlichen innern wie äußern Hämorrhagien treten allgemeine Zeichen ein, welche als Verblutungssymptome zu betrachten sind: Blässe der Haut, namentlich des Gesichts, große Schwäche, leichtes Zittern der Glieder; der Puls wird klein und weich, aber sehr frequent, der Kranke atmet schneller, er klagt über heftigen Durst und Übelkeit, es wird ihm schwarz vor den Augen, die Ohren klingen ihm, endlich wird er ohnmächtig und stürzt bewußtlos zusammen. Wenn jetzt die B. noch gestillt wird, so kann der Kranke wieder zur Besinnung kommen und am Leben erhalten bleiben. Hört die B. aber nicht auf, so schließt sich unmittelbar der Tod an. Der Blutende gewährt das Bild eines Sterbenden, sein Antlitz ist verfallen, äußerst bleich, es stellen sich krampfartige Zuckungen der Glieder ein, der Kranke thut einen Schrei, und im nächsten Moment ist er tot. Die Gesamtmenge des Bluts beträgt etwa 1/13 des Körpergewichts; hiernach richtet sich das Maß dessen, was für jedes Individuum gefährlich ist, denn 1 kg wird von einem robusten Mann von 100 kg ohne allen Schaden ertragen, während es für eine Person von 50-60 kg schon höchst bedrohliche Erscheinungen der Verblutung hervorrufen würde; ein Verlust von der Hälfte des Gesamtbluts im Körper ist unter allen Umständen tödlich. Kleine Kinder und Greise vertragen Blutverluste schlecht. Bei Neugebornen ist ein Blutverlust von 60-70 g mit Lebensgefahr verbunden, ebenso bei einem einjährigen Kind ein Blutverlust von 250 g. Frauen ertragen große Blutverluste besser als Männer. Wenn die Blutungen nach und nach, also in größern Pausen, erfolgen, so vermindert sich die Gefahr derselben, weil inzwischen immer ein Wiederersatz des Bluts im Körper stattfindet. Es ist übrigens nicht zu leugnen, daß die Blutungen zuweilen einen günstigen Einfluß auf den zeitweiligen Körperzustand ausüben, daß z. B. eine eintretende Hämorrhoidalblutung die vorausgegangenen unangenehmen Gefühle von Spannung und Druck im Unterleib, von Ziehen im Rücken etc. heben, daß ein Nasenbluten zuweilen einen heftigen Kopfschmerz rasch verschwinden machen kann. Insofern solche Blutungen diese Wirkung äußern, kann man sie wohl mit allem Recht, wie von Hippokrates' Zeiten an schon geschehen, als kritische bezeichnen. Es muß aber doch nachdrücklich davor gewarnt werden, in der B. ein Bestreben der Natur mit der Tendenz zu heilen sehen zu wollen. Denn dergleichen Blutungen werden häufig habituell, wiederholen sich periodisch, und oft leidet dann die Ernährung des Körpers unter dem Einfluß ihrer häufigen Wiederkehr.

Das Aufhören oder Stehen der B. findet bei parenchymatösen oder venösen Ergüssen in der Regel ohne Kunsthilfe durch Gerinnung und dadurch bedingten Verschluß der Gefäße statt. Schwieriger ist dies schon bei kleinern Arterien, sofern nicht durch Ansammlung des ausgetretenen Bluts im umliegenden Gewebe ein mechanischer Widerstand gegen den innern Blutdruck geschaffen wird. Bis zur Unmöglichkeit erschwert wird das freiwillige Stehen des Bluts bei Verletzung größerer Arterien oder solcher Gefäße, deren Wandungen durch Kalkeinlagerung starr geworden oder in starrem, knorpelhartem Gewebe eingebettet sind. Ohne Blutgerinnung ist eine Blutstillung absolut unmöglich. Durch gewisse Einrichtungen des Körpers wird die Blutstillung unterstützt, z. B. dadurch, daß der Blutdruck innerhalb der Gefäße mit der wachsenden Größe des Blutverlustes abnimmt, sowie dadurch, daß das Blut um so schneller gerinnt, je mehr Blut der Mensch bereits verloren hat. Andre Umstände erschweren die Blutstillung und müssen daher vermieden werden. Der blutende Teil darf nicht herabhängen, sondern muß horizontal liegen; der Blutende darf nicht gehen und stehen, sondern muß ruhig liegen; er darf nicht tief atmen; der blutende Teil darf nicht warm, sondern muß kühl gehalten werden etc.

Die Behandlung, das Stillen der B., bezieht sich nach dem Gesagten also in der Regel auf ausgiebige Blutungen. Das erste und naturgemäß Mittel ist der Verschluß der zerrissenen Gefäße, sei es, daß man sie zudrückt oder mit einem Tuch verbindet, Feuerschwamm auflegt, das Glied oberhalb der verletzten Stelle umschnürt oder in blutende Höhlen, z. B. Nase oder Scheide, bis zum festen Verschluß Pfröpfe von Scharpie und Watte einstopft. Diese einfache Vorschrift wird von Laien, die bei heftiger B. den Kopf verlieren, in kaum glaublicher Weise außer acht gelassen. Alle Mittel, welche durch Zusammenzieht kleiner Gefäße blutstillend wirken, wie Kälte in Form von Umschlägen, Eisblasen, Eispillen oder heißes Wasser bei B. nach Entbindung oder wie die adstringierenden Mittel, Tannin, Bleizucker, Liquor ferri sesquichlorati, oder Mutterkorn und das wirksame Ergotin, sind zur Mithilfe oder für Fälle, in denen die B. nicht direkt zugänglich ist, gewiß höchst schätzenswert, aber sie sind eben nur ein Ersatz für den mechanischen Verschluß. Wenn eine Pulsader spritzt, so soll man zunächst den Daumen auf die Stelle fest aufdrücken und, bis der Arzt kommt, vor allem sorgen, daß das Blut nicht heraus kann. Ist jemand zur Hilfe da, so umgreift er das Bein oder den Arm dicht oberhalb der blutenden Stelle und übt hier und womöglich noch außerdem in der Schenkelbeuge, bez. in der Achselhöhle einen dauernden, möglichst kräftigen Druck aus. Mit Kälte und Hoffmanns Tropfen ist dabei nichts gethan! Der Arzt