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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Böhme

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Böhme.

1617 Erbauungsstunden im Hause zu halten, von 1619 an auch wieder zu schreiben anfing und bis zu seinem Tod (17. Nov. 1624) noch 21 Schriften verfaßte, von welchen wir neben der schon oben genannten als die bemerkenswertesten anführen: "Von den drei Prinzipien nebst Anhang"; "Vom dreifachen Leben des Menschen"; "Vierzig Fragen von der Seele nebst dem umgewandten Auge"; "Von der Menschwerdung Jesu Christi"; "Von sechs theosophischen Punkten"; "Von sechs mystischen Punkten"; "Vom irdischen und himmlischen Mysterium"; "Der Weg zu Christo in acht Büchern" u. a.

Den Mittelpunkt seiner in die Sprache der Alchimie und Naturphilosophie seiner Zeit, namentlich des Paracelsus, verhüllten und deshalb schwer klarzumachenden Spekulation bildet die Frage nach dem Verhältnis der Kreatur und des in der Welt thatsächlich vorhandenen Bösen zu Gott als dem Schöpfer einer vollkommenen Welt. In ersterer Hinsicht widerstrebt es ihm ebensosehr, daß die Welt nach der Lehre der Orthodoxie aus dem reinen Nichts, wie daß sie aus einem Etwas außer der Gottheit geschaffen sein sollte. In letzterer Hinsicht scheint es ihm ebenso unzulässig, daß der Urheber des Bösen Gott, wie daß neben Gott ein zweites ursprünglich böses Prinzip (im Sinn des Dualismus der Manichäer) vorhanden sei. Sein Bemühen geht dahin, die Kreatürlichkeit der Welt mit deren Ursprung aus Gott und die Existenz des Bösen in der Welt mit der Helligkeit ihres Schöpfers in Einklang zu bringen. Dies versucht er, indem er die Gottheit als das ursprüngliche Eine, welches Alles ist, als das natur- und unterschiedslose Mysterium, die "ewige Stille", welche aber in sich das Prinzip der "Schiedlichkeit" (d. h. die Einheit, welche zugleich eine verborgene Mehrheit ist) trägt, von dem infolge jenes Prinzips in wirkliches Geschiedensein übergegangenen und dadurch in den Gegensatz des, physisch genommen, Göttlichen und Ungöttlichen, moralisch genommen, Göttlichen und Widergöttlichen (Guten und Bösen, welches ursprünglich beides in Gott war) auseinander getretenen göttlichen Wesens unterscheidet. Auf seiten dieses Un- und Widergöttlichen in Gott, welches er auch das Reich der Hölle und der Finsternis, den Zorn Gottes, wie dessen Gegensatz das Reich des Himmels und des Lichts, die Liebe Gottes nennt, steht das Geschaffene und Böse (welch letztere Eigenschaft von der Geschöpflichkeit unabtrennlich ist) als das von Gott Geschiedene, wider ihn sich Auflehnende (Luzifer), dessen Sein im Gegensatz zu dem "qualfreien" (d. h. qualitätslosen) Wesen Gottes (der alles und keins von allen ist) als "Qual" (d. h. als Qualität) bezeichnet wird. Dieselbe stammt, wie die Kreatur selbst, aus Gott, und daher drücken die in ihr enthaltenen Gegensätze des Herben und Süßen die in der Gottheit enthaltenen des Göttlichen und Widergöttlichen (des Lichts und der Finsternis, des Guten und Bösen) in der geschaffenen Welt aus. Das Herbe wird als Salniter (das unorganische Reich, das Finstere in der geschaffenen Welt), das Süße als (lebendiges) Quecksilber (die organische Natur: Pflanzenreich, Tierreich, Mensch) bezeichnet. Jenem entspricht in der offenbar gewordenen Gottheit das Höllen-, diesem das Himmelreich; zwischen beiden steht in der geschaffenen Welt das (lebendige) Feuer (Sulphur) als Mittelglied zwischen Organischem und Unorganischen (Beseelten und Seelenlosem; auch Gutem und Bösem, weil es sowohl einen zerstörenden [Zornfeuer] als einen wohlthätigen Charakter hat [Liebesfeuer], daher auch Geist, Vernunft genannt), in der ungeschaffenen Welt (d. h. in Gott) der Heilige Geist, der "göttliche Sulphur", als Mittelglied zwischen dem materiellen, dunkeln Prinzip, dem "göttlichen Salniter" und dem seelischen, lichten Prinzip, dem "göttlichen Merkurius" (Vater und Sohn), weil er von beiden zugleich ausgeht, wie der menschliche Geist aus der Verbindung des starren Leibes mit der beweglichen Seele entspringt. Durch die Scheidung der ungeschiedenen Gottheit in Göttliches und Ungöttliches und die Einigung beider im Geist ist Gott erst wahrhaft Gott, wie durch die Scheidung der Kreatur in Natur und Geist und die Einigung beider in der Vernunfterkenntnis der Mensch erst wahrhaft Mensch. Daher ist die Schöpfung der Kreatur und die Entstehung des Bösen, welches die Folge der Scheidung der Elemente in Gott ist, für die innere Entwickelung der Gottheit zum Geist Gottes so notwendig wie die irdische Natur und die sündhafte Neigung durch dieselbe, welche die Folge der Geschiedenheit des Menschen in Leib und Seele ist, für die innere Entwickelung des natürlichen Prinzips zum das Wahre erkennenden und das Gute wollenden Menschengeist. Der geschichtliche Prozeß des Bösen in der geschaffenen Welt wird in den Schöpfungsprozeß und dieser selbst als Durchgangsglied in den innern geschichtlichen Werdeprozeß der Gottheit zum Geist Gottes aufgenommen. Aus diesem Gesichtspunkt begreift es sich, wie, nachdem Jacobi, der das Übersinnliche mittels "Intuition" suchte, auf die Visionen des "Schusters" wieder aufmerksam gemacht und Fichtes Wissenschaftslehre den logischen Ternar: Einheit, Trennung, Wiedervereinigung in die Mode gebracht hatte, die spekulative Philosophie B. als ihren Vorläufer ansehen konnte. Die innere Erleuchtung entsprach ihrer intellektuellen Anschauung, der theosophische Standpunkt dem Zentrum des Absoluten, der Fortschritt von der "Stille" durch das "Leben" (Schöpfung und Erlösung) zum "Geist" in Gott der Identifikation des dreigliederigen, logischen und weltgeschichtlichen Prozesses in Hegels und Schellings Geschichts- sowie das Spiel mit naturwissenschaftlichen Namen und Prozessen des letztern Naturphilosophie. Hegel fand in Böhmes Bemühen, die Gottheit zum Geiste, die Quintessenz seines Systems wieder, die Substanz zum Subjekt zu erheben; Schelling hätte sich für seinen berühmten Ausspruch, daß am Ende der Weltgeschichte Gott sein "werde", ans Böhmes Vorgängerschaft berufen können. Als der letztere seinen Übergang von der rein rationalen zur geschichtlichen Philosophie vollzog, bildete unter ausdrückliche Berufung auf B. der Ursprung des Bösen aus dem göttlichen "Ungrund" den Wendepunkt. Am meisten haben dogmengläubige Philosophen, wie Saint-Martin, Fr. v. Baader, Günther, aus ihm geschöpft; letzterer schrieb ihm eine "somnambule, clairvoyante Anschauung der Natur" zu, was zugleich das stärkste Urteil über seinen philosophischen Wert ausdrückt. Seine Schüler waren zahlreich, die bekanntesten darunter: Joh. Angelus v. Werdenhagen, Fr. Krause, Chr. Hohburg, Fr. Breckling, Qu. Kuhlmann (der 1689 zu Moskau verbrannt wurde), Joh. Jak. Zimmermann, Nik. Tscherer, Joh. Roth, Ed. Richardson, Poiret, Pordage, J. G. ^[Johann Georg] Gichtel (Stifter der Sekte der Engelsbrüder), Johanna Leade, Antoinette Bourignon, Öttinger. Die erste Sammlung der Schriften Böhmes besorgte Heinrich Betke (Amsterd. 1675), eine vollständigere J. G. ^[Johann Georg] Gichtel (das. 1682-83, 10 Bde.), dessen Summarien in der Ausgabe von Uberfeld ^[richtig: Überfeld] (das. 1730, 6 Bde.) abgedruckt wurden; die neueste Ausgabe besorgte K. W.