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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bürger

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Bürger (Staats-, Gemeindebürger).

glieder einer Stadtgemeinde B. hießen, gleichwohl noch engere Bedeutungen des Worts B. geltend. Zunächst unterschied man an einigen Orten B. als Hauseigentümer von den Handwerkern und zog zwischen den Gerechtsamen beider strenge Linien. Noch enger wurde der Begriff B. durch die Gegensätze der Schutzverwandten, Beisitzer, Beisassen oder bloßen Einwohner. Alle solche Schutzverwandte galten nur als unvollkommene B., und der eigentliche Charakter des Bürgers kam nur den vollberechtigten Mitgliedern der Stadtgemeinde zu (jus civitatis plenum im Gegensatz zum jus civitatis minus plenum). Diese Schutzverwandten standen als solche unter städtischer Obrigkeit und Gerichtsbarkeit, hatten aber kein Stimmrecht in städtischen Angelegenheiten, waren unfähig zu städtischen Ämtern und durften nicht die volle bürgerliche Nahrung, sondern nur gewisse Gewerbe treiben. Auch dadurch, daß gewisse Vorrechte, z. B. Besitz liegender Güter, die Ausübung gewisser Gewerbe, nur von Bürgern in Städten besessen werden konnten, entstand eine neue Veranlassung, daß Personen, die nach ihrem Stande der Aufnahme in der Stadt nicht bedurft hätten, um das Bürgerrecht nachsuchten. Auch diese hatten nur ein unvollkommenes Bürgerrecht und hießen Aus- oder Pfahlbürger; sie hielten sich in der Stadt bloß zu bestimmten Zwecken auf, besonders um städtische Grundstücke erwerben zu können. Außerdem gab es noch Gras- oder Feldbürger, welche in Dörfern wohnten, die zu dem städtischen Territorium gehörten, und Glevenbürger (von gleve, "Lanze, Spieß"), welche das Bürgerrecht nur mit der Verpflichtung erhielten, der Stadt in Kriegsgefahr Kriegsdienste zu leisten. Seit dem 16. Jahrh. bildete sich die Idee aus, die Unterthanen eines Staats als eine geschlossene Gemeinde zu betrachten und so gleichsam die städtische Verfassung auf den Staat zu übertragen, und seitdem nennt man die vollberechtigten Unterthanen des Staats Staatsbürger (s. Unterthan). Die Rechte derselben werden bürgerliche Ehrenrechte genannt, die durch rechtswidrige Handlungen verwirkt werden können (s. Ehrenrechte). Die B. der einzelnen Gemeinden dagegen bezeichnet man als Orts- oder Gemeindebürger. Wo aber die Verfassung der Stadtgemeinden von derjenigen der ländlichen Ortschaften noch wesentlich verschieden ist, pflegt man noch jetzt mit B. den Angehörigen der städtischen Gemeinde zu bezeichnen, während der Landbewohner Nachbar genannt oder mit einem dem Sprachgebrauch der Gegend und der Gesetzgebung entsprechenden anderweiten Ausdruck bezeichnet wird, insofern er B. der Landgemeinde ist. Im übrigen ist der Unterschied zwischen B. und Bauer in rechtlicher Beziehung vollständig verwischt worden (s. Bauer). Als Staatsbürger stehen sich die Angehörigen der früher streng geschiedenen beiden Stände, Bürger- und Bauernstand, völlig gleich, und ebenso sind die Unterschiede zwischen Bürger- und Adelstand in rechtlicher Beziehung nahezu vollständig beseitigt (s. Adel). Auch die Abstufungen innerhalb des Bürgerstandes, welche Sitte und Sprachgebrauch bis in die neuere Zeit beibehalten hatten, sind heutzutage gegenstandslos. So hat man wohl die Gewerbtreibenden in den Städten vorzugsweise als B. bezeichnet, im Gegensatz zu den Beamten, Künstlern etc. Auch unterschied man zwischen höherm und niederm Bürgerstand; indessen sind solche Unterscheidungen heutzutage nicht mehr am Platz. In neuester Zeit suchen freilich die Anhänger der Sozialdemokratie den Arbeiterstand zu dem Bürgerstand in einen gewissen Gegensatz zu bringen, und der "Bourgeois" wird von ihnen als der eigentliche Vertreter der kapitalistischen Produktionsweise hingestellt und bekämpft, ohne daß sich jedoch ein solcher Unterschied aus der rechtlichen Stellung des sogen. vierten Standes im Gegensatz zu dem als dritter Stand bezeichneten Bürgertum rechtfertigen lassen könnte. Das Bürgerrecht, d. h. der Inbegriff der dem B. als solchem zustehenden Rechte, ist vielmehr jedem Staatsangehörigen in gleicher Weise zugänglich. Für das Deutsche Reich ist zudem, wie in dem frühern Norddeutschen Bunde, das Prinzip der Zug- und Niederlassungsfreiheit durchgeführt. Wichtige Befugnisse, welche ehedem mit dem Bürgerrecht verknüpft waren, sind seitdem auf die Staatsangehörigen und auf die Angehörigen des Reichs überhaupt ausgedehnt worden, welch letztern ein gemeinsames Bundesindigenat (Reichsbürgerrecht) verliehen und damit das Recht eingeräumt ist, in jedem Bundesstaat als Inländer behandelt und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechte und zum Genuß aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zugelassen zu werden (s. Bundesindigenat).

Das Gemeindebürgerrecht hat daher in neuerer Zeit an Bedeutung erheblich verloren. Die darin enthaltenen Befugnisse waren und sind teils politischer, teils privater Natur. Zu den erstern gehören die aktive und passive Wahlfähigkeit zu allen Gemeindeämtern und das Stimmrecht in den Gemeindeversammlungen. Privatrechtliche Befugnisse waren früher: das Recht des ständigen Aufenthalts innerhalb der Gemeinde; das Recht des Gewerbebetriebs oder der bürgerlichen Nahrung; das Recht, innerhalb der Markungsgrenzen Grundbesitz zu erwerben; das Recht der bestimmungsmäßigen Benutzung der öffentlichen Anstalten der Stadt; das noch jetzt in manchen Gemeinden bedeutungsvolle Recht der Mitbenutzung und Teilnahme am Gemeindegut, soweit nicht dessen Nutzungen nach Statuten, Gewohnheit, Vertrag oder Urteil Einzelnen oder einzelnen Klassen von Gemeindegliedern anfallen; für die männlichen B. das Recht, innerhalb der Gemeinde durch Heirat eine Familie zu begründen, sofern sie eine solche zu ernähren im stande waren; das Heimatsrecht, d. h. das Recht, im Fall der Verarmung und der Unfähigkeit zum eignen Broterwerb den notwendigsten Lebensunterhalt aus Gemeindemitteln in Anspruch zu nehmen, sofern zu dessen Gewährung kein andrer (Verwandter, Stiftung etc.) nach den Grundsätzen des Privatrechts rechtlich verpflichtet und vermögend ist. An die Stelle des Heimatsrechts in diesem Sinn ist in Deutschland, abgesehen von Bayern und Elsaß-Lothringen, nunmehr das Recht des Unterstützungswohnsitzes (s. d.) getreten. Dagegen legt das Bürgerrecht auch gewisse Bürgerpflichten (Bürgerdienste, bürgerliche Beschwerden) auf. Jeder B. macht sich bei seiner Aufnahme verbindlich, für das Beste der Gemeinde möglichst mitzuwirken, Gemeindeämter zu übernehmen, gewisse Kommunaldienste zu leisten und die Gemeindeabgaben, den Bürgerschoß, zu entrichten. Indessen werden jetzt auch Nichtbürger zu den Gemeindeumlagen herangezogen, wofern sie nur ihren ständigen Aufenthalt in der Gemeinde haben. Erworben wird das Bürgerrecht durch die Aufnahme als B., welche von der Gemeindevertretung ausgeht. Früher pflegten wohl auch Landesherrn B. ohne Konkurrenz des Rats, sogen. Gnadenbürger, zu ernennen. Fähig zur Erlangung des Bürgerrechts ist