Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Chirurgie

39

Chirurgie.

zinischen Wissens sein, wie umgekehrt der Arzt, welcher sich vorzugsweise der Behandlung der innern Krankheiten widmet, ohne chirurgische Kenntnisse nicht auskommt. Die Trennung der C. von der innern Medizin beruht darauf, daß der Chirurg über eine gewisse Technik verfügen muß, welche namentlich bei den chirurgischen Operationen, bei der Anwendung mechanisch wirkender Heilmittel etc. in Frage kommt, und die sich nicht jeder Arzt in dem genügenden Grad aneignen wird; praktisch wird daher die Trennung der C. und der innern Medizin fortbestehen, in der Wissenschaft selbst aber besteht eine solche Trennung durchaus nicht. Das Gebiet, welches, der Tradition entsprechend, der C. anheimfällt, umfaßt vorzugsweise die zu Tage liegenden, äußerlich sichtbaren Schäden, also namentlich die Wunden und Geschwüre, die Knochenbrüche und Verrenkungen, die Unterleibsbrüche, Vorfälle, Geschwülste, überhaupt alle diejenigen Krankheitszustände, welche der ärztlichen Behandlung auf operativem oder mechanischem Weg zugänglich sind.

Wesentliche Bestandteile der C. sind die Lehre von den chirurgischen Operationen und die Verbandlehre. Die Lehre von den blutigen Operationen heißt Akiurgie, die von den unblutigen Mechanurgie. Die Militär- oder Kriegschirurgie ist, wie sich eigentlich von selbst versteht, keine ihrem innern Wesen nach von der C. verschiedene Disziplin; sie besteht vielmehr nur in der Anwendung allgemein chirurgischer Grundsätze auf die im Krieg vorzugsweise vorkommenden Krankheiten. Früher unterschied man zwischen der höhern und niedern C. Zur letztern gehörten das Aderlassen, Ansetzen von Schröpfköpfen und Blutegeln, Zahnausziehen und ähnliche Manipulationen.

Geschichte. Die C. ist nächst der Geburtshilfe wohl der älteste Teil der gesamten Heilkunde. Ihre Anfänge haben wir wahrscheinlich bei den Ägyptern zu suchen; sie führten Ärzte auf ihren Feldzügen bei sich und übten bereits die Amputationen, den Steinschnitt und andre große Operationen aus. Für viel vollkommener würde die C. der alten Inder gelten müssen, wenn man sicher wäre, daß ihr berühmtes medizinisches Werk "Ayurveda" oder Buch der Lebenskunde, von Susrutas, wirklich das hohe Alter besitze, welches einzelne Gelehrte ihm zuschreiben, die es 1000-1400 v. Chr. zurückdatieren. Bei den Griechen erfreute sich die C. schon zu Hippokrates' Zeiten (460-377) einer großen Blüte; wegen der mangelhaften Ausbildung der Anatomie und Physiologie konnten die größern blutigen Operationen bei den Griechen nicht in Aufnahme kommen. Dagegen leisteten die griechischen Ärzte z. B. auf dem Gebiet der Knochenbrüche und Verrenkungen schon Ausgezeichnetes, besonders in der Zeit nach Hippokrates in Alexandria. Zu den Römern wurde die C. von Griechenland aus importiert. Celsus (1. Jahrh. n. Chr.) spricht schon von plastischen Operationen, von den Unterleibsbrüchen; auch gibt er eine Amputationsmethode an, welche noch heute geübt wird. Die spätern römischen Ärzte, selbst Galenus (gest. 201), haben die C. nicht wesentlich weitergebildet; doch suchte Galenus der C. wie der Heilkunde überhaupt eine sichere anatomische Grundlage zu geben. Der Zusammenhang zwischen der römischen und der spätern westeuropäischen Kultur wurde durch die Araber vermittelt, welche auch die Führung in der medizinischen Wissenschaft übernommen hatten. Allein bei ihrer auf religiösen Vorurteilen beruhenden Scheu vor blutigen Operationen brachten sie es nur zu einer größern Sicherheit in der Unterscheidung und Erkennung der chirurgischen Krankheiten, und an Stelle des Messers bedienten sie sich des Glüheisens, das sie in der größten Ausdehnung anwendeten. Als die Hauptrepräsentanten der arabischen C. sind zu nennen Rhazes (850-932), Avicenna (980-1037), Abulkasem (gest. 1106) und Avenzoar (gest. 1162). Nach der Zeit der Araber blühte die Medizin in der Schule zu Salerno in Unteritalien. Der berühmteste Wundarzt dieser Schule ist Roger von Parma (um 1200). Zu neuer Blüte erwachte das Studium der C. im 13. Jahrh. auf den italienischen Universitäten Neapel, Bologna und Padua. Von Italien aus wurde dann die C. vorzugsweise durch die Bemühung Lanfranchis nach Frankreich verpflanzt, wo sie von nun an eine bleibende Pflegstätte fand. Der berühmteste unter den ältern französischen Chirurgen ist Guy de Chauliac, welcher auch 1363 ein lange in Ansehen stehendes Lehrbuch der C. geschrieben hat. Eine neue Zeit brach für die C. an, als im Lauf des 16. Jahrh. die Anatomie neu begründet und durch den gemeinsamen Fleiß der Ärzte aller Länder wissenschaftlich ausgebildet wurde. An der Spitze dieser Reformation stand der Niederländer Vesalius. Dazu kam der Umstand, daß der C. ein ganz neues Gebiet von Krankheiten, nämlich die Schußwunden, zufiel. Die Schrift des berühmten französischen Chirurgen Ambroise Paré über die Schußwunden und die von ihm eingeführte Arterienunterbindung bildete den Ausgangspunkt für die Umgestaltung der gesamten C. Die gelehrten Ärzte und die Professoren an den Universitäten übten damals fast gar keinen Einfluß auf den Entwickelungsgang der C. aus, während die praktischen Chirurgen, die häufig die C. nur handwerksmäßig erlernt hatten, zum Teil eine hervorragende Bedeutung erlangten. Nirgends aber lag die C. mehr danieder als in Deutschland. Epochemachend in der Geschichte der C. ist die Gründung der Akademie der C. in Paris 1731, welche in jeder Beziehung der medizinischen Fakultät daselbst gleichgestellt wurde und fast ein Jahrhundert lang für die C. in ganz Europa tonangebend blieb. An der Spitze der chirurgischen Akademie standen Männer wie Petit, Desault, Percy u. a., welche zusammen mit hervorragenden englischen Wundärzten als die Gründer der modernen C. betrachtet werden müssen. In England erreichte die C. im Lauf des vorigen Jahrhunderts einen hohen Grad von Ausbildung. Unter die berühmtesten Chirurgen dieser Periode zählen wir Männer wie Pott, William und John Hunter (1728-93), Benjamin Bell (1749-1806), Cheselden, Alex. Monro u. a. Unter ihnen ist John Hunter ohne Zweifel das größte Genie, ebenso bedeutend als Anatom wie als Chirurg. Hinter den genannten Männern Frankreichs und Englands stehen die deutschen Chirurgen des 18. Jahrh. weit zurück. Der bedeutendste von ihnen ist wohl Lorenz Heister. Mehr Aufschwung kommt in die deutsche C. erst mit dem Eintritt des gegenwärtigen Jahrhunderts, besonders durch v. Siebold (gest. 1807) und August Gottlob Richter (gest. 1812). Von jetzt an treten, in Deutschland wenigstens, die Professoren der C. wieder in den Vordergrund und behaupten fortan diese Stellung, weil sie jetzt die C. auch in Wirklichkeit praktisch ausüben. Doch nehmen noch im Anfang des 19. Jahrh. die französischen Chirurgen den ersten Rang ein; Männer wie Boyer, Delpech, Dupuytren, Larrey, der Leibarzt Napoleons I., übten auf die Ausbildung der C. den größten und wohlthätigsten Einfluß aus. Neben ihnen erhob sich in England die Autorität von Astley Cooper (1768-1841). Die Schriften der genannten englischen und französischen

^[Artikel, die unter C vermißt werden, sind unter K oder Z nachzuschlagen.]