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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Christentum

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Christentum.

messianische, von Jesus verinnerlichte und versittlichte Idee des "Sohnes Gottes" erklärt wurde als eine physische Gottessohnschaft, welche auf direkter Erzeugung nach Analogie der griechischen Halbgötter und Heroen beruhte; diese, insofern die Platonisch-stoische Unterscheidung des "Wortes" Gottes, des sogen. Logos (s. d.), von Gott selbst wie von den alexandrinischen Juden, so nunmehr auch von den philosophierenden Christen, erstmalig im Johanneischen Evangelium, aufgenommen und auf ihrem Grund eine Lehre von dem Verhältnis des Vaters zum Sohn erbaut wurde, welche sich dann unter Hinzutritt eines dritten zu berücksichtigenden Faktors, des Heiligen Geistes, im Trinitätsdogma abrundete.

Aber nicht bloß auf religiösem, auch auf sittlichem Gebiet hatte der griechische Geist eine gewaltige Vorarbeit geliefert. Schon Sokrates bedurfte zur Begründung seiner Sittenlehre keiner von außen oder von oben kommenden Gebote mehr, da er dieselbe echt griechisch aus den Tiefen des gottverwandten Geistes ableitete, weshalb man von ihm gesagt hat, daß er die Philosophie vom Himmel auf die Erde gebracht habe. Er lieferte damit wenigstens einen allgemeinen Typus für das, was später das C., indem es den Geist freier Sittlichkeit von der Beschränktheit alttestamentlicher Gesetzlichkeit entband, was insonderheit der Protestantismus leistete. Das unvergleichlich Größte aber hat Platon gethan, um die hellenische Gedankenwelt auf eine Stufe zu heben, auf welcher sie fähig war, sich mit den religiösen Erträgnissen des semitischen Orients, insonderheit mit dem Hebraismus, zu berühren und eine aus beiden bisher sich fliehenden Elementen gemischte Weltanschauung zu erzeugen. Als eine solche aber muß diejenige des Christentums, wie es sich in der Geschichte ausbreitete, bezeichnet werden. Semitisch und hebräisch ist das Gewebe historischer Fäden, an welchem es seine Gottes- und Weltanschauung zur Darstellung bringt; griechisch und Platonisch ist der metaphysische Hintergrund, welchen es der geschichtlichen Fortbewegung seiner Ideen verleiht, jene ganze Grundanschauung, wonach eine höhere, übersinnliche Welt als ein dem endlichen Verstand überlegenes, nur mit dem Glauben zu fassendes Etwas in unser Sinnenleben hereinspielt, so daß, was von geistigem Reiz und göttlichem Gehalt in diesem letztern vorkommt, was von sittlichen Aufgaben sich stellt, aus solchem Hereinleuchten sich erklärt. Ganz besonders brauchbar, wo es galt, die Verluste, die man durch Preisgeben des ursprünglichen Idealismus erlitten hatte, durch neubezogene Gewinne zu decken, fand man die Umbildung, welche die Gedanken Platons in dem nachgebornen System des Neuplatonismus erfuhren. Auf Grund dieses Systems also in seinen alten und neuen Formen haben Kirchenväter und Scholastiker ein Jahrtausend lang die christlichen Dogmen zuerst gebildet und bearbeitet, dann erklärt und bewiesen. Nächst dem Platonismus war es endlich noch die Stoa, welche mit ihrer Lehre von der Gottverwandtheit und Gleichheit der menschlichen Natur Einfluß ausübte. Alle Menschen sind schon nach Chrysipp als Mitgenossen und Mitbürger zu betrachten, damit die Welt erscheine "wie Eine verbundene Herde, die durch Ein gemeinsames Gesetz geleitet wird" (Joh. 10, 16). Eine Menge direkter Parallelen zu Paulus ist aus Seneca zusammenzulesen. Auch das Wort, daß alle Menschen Brüder sind, hat man zuerst in der Stoa gehört. Wie schon das Altertum solchen Aussprüchen eine weltgeschichtliche Bedeutung beimaß, zeigt Plutarch, welcher meint, was Zenon gewollt, habe Alexander vollbracht. Alexanders Gedanke aber wurde im Grund erst durch das römische Weltreich verwirklicht, und als dieses eben unter dem ersten Kaiser seinen dauernden Zusammenschluß gefunden hatte, entstand in einem seiner entlegenen Winkel auch diejenige Religion, welche unter allen dagewesenen Religionen allein eine solche Unabhängigkeit von jedweder national-partikularistischen Bedingtheit erlangen konnte und sollte, daß sie fähig wurde, den ungeheuern Riesenleib jenes Reichs gleichmäßig zu beseelen, ja sogar, als derselbe allmählich abstarb und zerfiel, ihn als europäische Weltreligion zu überdauern und eine neue, weltgeschichtlich noch verheißungsvollere Verbindung mit dem germanischen Element einzugehen.

Eine solche Dauerhaftigkeit, wie sie das C. unter dem Zusammensturz aller Kultur- und Staatsmächte der Alten Welt an den Tag legte, setzt freilich voraus, daß dasselbe sich zuvor schon in bestimmt gegliederten Verfassungsformen verfestigt hatte, daß es Kirche (s. d.) geworden war. Das aber ist es keineswegs etwa von vornherein schon gewesen. Vielmehr hatte man ursprünglich mit der gesamten Wirklichkeit und mit jeder Zuversicht auf die Entwickelungsfähigkeit derselben so gründlich gebrochen, daß der urchristlichen Phantasie zunächst auch die durch den Glauben an Jesu Messianität gebildete Gemeinde nur durch das direkte Wunder der Wiederkunft ihres Stifters zur Erbin der alten Weltreiche erhoben werden zu können schien. Der Schwerpunkt der urchristlichen Zukunftsgedanken fiel noch ganz in das sogen. Tausendjährige Reich (s. Chiliasmus). Erst allmählich übte die in den Paulinischen und Johanneischen Schriften angelegte Auffassung, wonach Christus als göttliches Prinzip in der Gemeinde seiner Gläubigen waltet und diese letztere zur Trägerin seines Bewußtseins, zur Fortsetzerin seines Willens wird, einen umgestaltenden und versöhnenden Einfluß, während die Kirche sich zugleich immer unumgänglicher auf einen längern irdischen Bestand einrichten mußte. Schon die Ausscheidung der Montanisten (s. d.) bedeutete im Grunde den Entschluß der Kirche, unter Verzicht auf ihre ursprüngliche Ausstattung und Kraft eine Weltmission im großen zu beginnen und die Völker zu erziehen. Diese Art von Realismus gewann dem ursprünglichen Idealismus im Verlauf des 3. Jahrh. massenhaftes Terrain ab. Die Kirche wurde ein Staat im Staat; sie unternahm es, den Weltstaat zu christianisieren, indem sie zugleich seine Bildung und Philosophie, seine Rechtsordnung und seine Kulte in den eignen Dienst nahm, bez. sich ihnen akkommodierte. Vollends seitdem sie Staatskirche geworden war (s. Konstantin d. Gr.), schiebt sich der Schwerpunkt des christlich-frommen Bewußtseins von der apokalyptischen Zukunftshoffnung hinweg in den gegenwärtigen, von der Kirche verbürgten und in ihr gegebenen Heilsbesitz. Das Band, welches jetzt die Christenheit zusammenhält, ist nicht mehr die selbst von Heiden der frühern Jahrhunderte gepriesene Bruderliebe und die gemeinsame Hoffnung auf die große Endkatastrophe, sondern eine hierarchische Ordnung, welche mit der christlichen Mündigkeit und Freiheit leicht auch die brüderliche Gesinnung ersticken konnte. Das höchste und umfassendste aller sittlichen Ideale des Stifters, das Reich Gottes, fiel diesem Katholizismus (s. d.) eben schon in Eins zusammen mit der empirischen Kirche, während der Protestantismus (s. d.) als ein neuer Versuch zur Realisierung des christlichen Prinzips beide Gedanken wieder voneinander zu scheiden unternahm. Die gegenwärtige Zahl

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