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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Christologie

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Christologie.

schon bei der Weltschöpfung beteiligte, zur vorausbestimmten Zeit ins Fleisch eingetretene und nach vollbrachter Versöhnung wieder zu Gott zurückgekehrte Logos erschien (s. Menschwerdung). Diesen Schritt that erst der vierte Evangelist, während zwei frühere sich damit begnügt hatten, einen nachweisbar ältern Typus der evangelischen Geschichte, darin Jesus als Sohn Josephs und Marias auftritt (Mark. 6, 3; Matth. 13, 53), mit einer Vorgeschichte zu vermehren, kraft welcher die Gottessohnschaft, die man sich sonst als im Moment der Taufe beginnend vorgestellt, auf die Zeugung selbst bezogen und nahezu physisch gefaßt wurde (Matth. 1, 18. 23; Luk. 1, 35). So hört schon im Verlauf der neutestamentlichen Entwickelung die C. auf, Messiaslehre zu sein, und wird statt dessen ein Stück Gotteslehre. Man hielt zwar die menschlichen Anschauungen von Christus in der Form fest, daß auch Paulinische und Johanneische Kreise noch in ihm den beglaubigten und bevollmächtigten Durchführer der göttlichen Zwecke in der Menschenwelt erblickten; zugleich aber faßte man ihn als ein Wesen auf, dessen Daseinskreis irgendwie mit dem göttlichen selbst sich deckte oder doch in denselben hineinfiel. Abgestreift aber und als häretisch gebrandmarkt war schon gegen Ende des 2. Jahrh. die Vorstellung der entschiedenen Judenchristen (s. Nazarener), der sogen. Ebionitismus, welcher die Göttlichkeit Christi in die höchste Stufe der Geistesbegabung, in die Vollendung des alttestamentlichen Prophetentums, verlegte, ihn selbst aber lediglich als Menschen gelten ließ.

War aber Christus für die jetzt entstehende katholische Kirche eine ewige und göttliche Persönlichkeit, so schien der streng und schlechthin einheitliche Gottesbegriff aufgehoben. Hinwiederum wollte und konnte man auch nicht zwei Götter lehren, denn damit wäre man in das Heidentum zurückgesunken. Es erfolgte daher eine Ausgleichung beider Seiten, eine Lösung des geschlungenen Rätsels in doppelter Weise. Anschließend an die Johanneische Lehre, wonach zwischen Gott und seinem in dem geschichtlichen Jesus Wort ein eigentümliches Verhältnis der Wesenseinheit besteht, erkannte schon eine im Lauf des 2. Jahrh. populär gewordene Vorstellung eine Verschiedenheit der Subjekte kaum mehr an; man sah in Christus einfach die Erscheinung des Vaters (Monarchianismus, Modalismus). Der so sich ergebenden Gefahr, Gott im Menschen oder den Menschen in Gott zu verlieren, begegneten die hervorragendsten Kirchenlehrer des 3. Jahrh., indem sie sich wieder mehr an die Paulinische Lehre anschlossen, welche den Sohn so bestimmt persönlich vom Vater unterscheidet, daß sie ihn zu dem letztern sogar in ein entschiedenes Verhältnis der Abhängigkeit setzt (Hypostasianismus, Subordinatianismus). Eine einigende Formel wurde in dieser Zeit noch nicht gesunden; erst im sogen. Arianischen Streit (s. d.), welcher fast das ganze 4. Jahrh. erfüllte, gelangte der Prozeß zwischen beiden Parteien zum Austrag. Auf den das Verhältnis des Vaters zum Sohn definitiv feststellenden Kirchenversammlungen von Nicäa (325) und Konstantinopel (381) wurden die bestehenden Gegensätze einfach nebeneinander gestellt, d. h. man stellte als Glaubensgeheimnis die Sätze auf, der Sohn sei dem Vater gleich an Wesen, aber doch eine verschiedene Person, also nicht ungezeugt, wie der Vater, aber doch auch nicht geschaffen, wie die Welt, sondern in ewiger Weise vom Vater erzeugt, "wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott".

Dieser ganzen Bewegung lag das religiöse Interesse zu Grunde, sich der unendlichen Bedeutung des christlichen Heils in der Anschauung der Person dessen bewußt zu werden, welcher dasselbe gebracht und ein für allemal begründet hatte. Die C. galt der Kirche als Ausdruck des Werts des ganzen Christentums. Wie dieser ein absoluter, so war die Person seines Stifters eine absolute, und es konnte die Entwickelung des dogmatischen Denkens über diese Person zu ihrem Ruhepunkt erst da gelangen, wo dieselbe unter Wahrung ihres menschlichen Charakters zugleich in einem Verhältnis zu Gott stand, welches keine Steigerung mehr zuließ. Ist Christus nach dem christlichen Gesamtbewußtsein der ausschließliche Vermittler der Vateroffenbarung Gottes, der eigentliche Schöpfer eines nach dem Urteil der gläubigen Christenheit ausreichenden Gottesbewußtseins, so ist er darum auch das Organ, womit diese christliche Menschheit Gott wahrnimmt, wie das Auge das Organ ist, womit die natürliche Menschheit das Licht wahrnimmt. Wie für diese das Licht im Auge, so ist für jene Gott in Christus, und das Bekenntnis von der Gottheit Christi, die Quintessenz der C., ist etwa nach Analogie des Satzes zu verstehen: "Das Auge ist das Licht des Leibes" (Matth. 6, 12). Die alte Kirche aber setzte gemäß den Denkformen, in welchen sie sich zu bewegen hatte, an die Stelle dieser religiösen Beurteilung eines religiösen Verhältnisses eine metaphysische Betrachtung und kam so nach durchgekämpften arianischen, nestorianischen, monophysitischen und monotheletischen Streitigkeiten endlich am Schluß des 7. Jahrh. zu dem fertigen Christusbild der Dogmatik: Eine gottmenschliche Person mit zwei Naturen und zwei Willen, wesensgleich nach der einen Seite mit dem "ungezeugten" Vater, nach der andern mit den "geschaffenen" Menschen (ausgenommen die Sünde), selbst aber weder ungezeugt noch geschaffen, sondern "von Ewigkeit gezeugt".

Während auf Innehaltung dieser Bestimmung der C. seitens der Kirche mit vollkommener Ausschließlichkeit gedrungen wurde und bald keiner, der sich in diesen Gang der Entwickelung nicht zu schicken wußte, noch ein Recht der Existenz in der Kirche, ja aus der Welt überhaupt mehr besaß, konnte man während eines ganzen Jahrtausends hinsichtlich des Werkes Christi, jener zweiten Hälfte der C., die verschiedenartigsten und unfertigsten Lehrmeinungen vernehmen. Erst die Scholastik hielt sich wieder enger an die Paulinischen Vorstellungen. Der erste, der dieselben in einen dialektisch gefaßten, durch die juristische Schablone des Mittelalters bedingten Ausdruck brachte, war Erzbischof Anselm von Canterbury, welcher in einer bis dahin nicht erreichten Vollständigkeit der Argumentation den Gedanken durchführte, daß Gott zur Wiederherstellung der ihm durch die Sünde entzogenen Ehre und zugefügten Beleidigung notwendig habe Mensch werden müssen, um so als Gottmensch durch freiwilligen Tod die Schuld abzutragen, die außer ihm niemand abtragen konnte, und den Widerstreit der göttlichen Liebe mit der göttlichen Gerechtigkeit und Heiligkeit auszugleichen (s. Versöhnung). Über diese sogen. Satisfaktionstheorie entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Schulen des Thomas von Aquino und des Duns Scotus, als ersterer, in Anselms Fußstapfen tretend, besonderes Gewicht auf das "überschüssige Verdienst" des Todes Jesu legte, letzterer hingegen das Zureichende desselben in Abrede stellte und die Lehre von der sogen. Acceptilation (s. d.) anbahnte. Die Mystiker versenkten sich bald

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