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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutsche Litteratur

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Deutsche Litteratur (Herder; der Göttinger "Hainbund" etc.).

einander bewundert wurden. Der gemeinsame Grundzug aller Bestrebungen und Zeitstimmungen blieb der Gegensatz zur phantasielosen Nüchternheit, zur begnügsamen Halbheit und zur hohlen Selbstgefälligkeit des Rationalismus.

Der größte Repräsentant des "Sturms und Dranges" (wie die Bewegung später nach dem Titel eines wildphantastischen Dramas von F. M. Klinger getauft ward) war Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803), in dessen zahlreichen und vielartigen Schriften sich alle geistigen Elemente der Bewegung begegneten. Die Genialität, der Gedankenreichtum und die ethische Hoheit Herders wirkten mächtig auf die ganze Litteratur der Zeit ein; speziell für die Dichtung wurde seine Anschauung über das Wesen der Ur- und Volkspoesie ganz entscheidend. Was Herder in den Hauptwerken seiner zweiten klassischen Periode, dem Buch "Vom Geiste der ebräischen Poesie", den "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1785-94), den Dichtungen und Abhandlungen der "Zerstreuten Blätter" gab, war nur Läuterung und weitere Ausführung der in seinen Jugendarbeiten gegebenen Anregungen. Als selbständiger Dichter blieb Herder vorwiegend didaktisch und reflektierend; seinen eignen Forderungen an die Poesie kam er am nächsten in den von ihm übertragenen und gesammelten "Volksliedern" und dem Romanzenkranz "Der Cid". An Herders erster Entwickelung hatte eine kleine Gruppe von Königsberger Schriftstellern bedeutenden Anteil, die ihrerseits mit der geistigen Welt und den Lebensregungen des deutschen Pietismus zusammenhängen, der während der Sturm- und Drangperiode auch von andrer Seite her sich in der Litteratur Geltung verschaffte. Unter diesen Königsbergern finden wir G. Hamann (1730-88), dessen "Sibyllinische Blätter" die Keime zu Herders Ideen einschließen, und Th. G. v. Hippel (1741-96), dessen humoristische Romane: "Lebensläufe nach aufsteigender Linie" und "Kreuz- und Querzüge des Ritters A-Z" eine denkwürdige Mischung rationalistischer und frommgläubiger Anschauungen und Empfindungen verbanden. Stärker noch erscheint das pietistische Element mit dem kraftgenialen gemischt in den Dichtungen und Volksschriften des "Wandsbecker Boten" Matthias Claudius (1740-1815), der zu den ersten gehörte, welche den Ton des echten, herzgebornen Volksliedes wiederum trafen, und in den Schriften von Heinrich Jung, genannt Stilling (1740-1817), dessen Selbstbiographie "Heinrich Stillings Leben" nebst den Romanen "Geschichte des Herrn von Morgenthau" und "Florentin von Fahlendorn" die eigentümlichen Lebensanschauungen und Erlebnisse der "Stillen im Lande" spiegelten. Zu den Schwärmern und Mystikern hinüber neigte auch Fr. Heinrich Jacobi (1743-1819), dessen religionsphilosophische Schriften und Romane ("Eduard Allwills Papiere" und "Woldemar") die bedenklichen Seiten eines schwelgenden Gefühlslebens und der Rousseauschen Einwirkungen offenbarten.

Die große dichterische Aufgabe der Zeit blieb die Rückgewinnung der Natur, und die jugendlichen Lyriker rangen mit allen Kräften, nicht nur den Ausdruck für die unmittelbare Empfindung, sondern auch neue, ausdruckswerte Gefühle zu gewinnen. Von besonderer Bedeutung hierfür ward die Gruppe junger Dichter, die sich im (Göttinger) sogen. Hainbund zusammengeschlossen hatte. Zu ihr gehörten außer H. Chr. Boie (1744-1806), dem Herausgeber des "Musenalmanachs", zu welchem sich auch andre Kräfte scharten, die beiden Brüder Christian (1748-1821) und Friedrich Leopold (1750-1819), Grafen zu Stolberg, Johann Martin Miller aus Ulm (1750 bis 1814), der mit einigen Liedern und dem sentimentalen Roman "Siegwart, eine Klostergeschichte" nachmals zu einer vorübergehenden Bedeutung gelangte, Karl Friedr. Cramer (1752-1807), Joh. Fr. Hahn (gest. 1779), Anton Leisewitz (1752-1806), dessen Tragödie "Julius von Tarent" große, unerfüllt bleibende Hoffnungen erregte; ferner der liebenswürdige, naiv-fröhliche und innige Liederdichter Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748-76) und Johann Heinrich Voß (1751-1826), die eigentliche Seele des Bundes. Letzterer repräsentiert schon die Entwickelung vom Sturm und Drang zu klassischen, bleibend wertvollen Dichtungen. Seine Natur drängte ihn in der reinen Lyrik zur Reflexion und zum breiten Moralisieren; zur Vollendung gelangte er als Idyllendichter in einer Reihe kleiner Meisterstücke und den besten Episoden seines Gedichts "Luise"; die größte Wirkung und Nachwirkung aber gewann er durch seine meisterhaften Übertragungen der Homerischen "Ilias" und "Odyssee". Den Göttingern nahe stand, obschon er dem studentischen Dichterbund nicht angehörte, Gottfried August Bürger (1748-94), der die neuen Forderungen an den Dichter mit seinen besten Liedern und kraftvollen Balladen zuerst ganz erfüllte, zuerst echt volkstümliche, herzergreifende Töne, die unmittelbarste Lebendigkeit der Erzählung und Schilderung, sinnliche Frische und hinreißende Macht des Ausdrucks besaß. - Während die Lyriker solchergestalt zur vollen Selbständigkeit erwuchsen, vertauschten die dramatischen Talente der Sturm- und Drangperiode die seither geltenden Muster mit dem Anschluß an Shakespeare, der mit Homer, Rousseau und dem nebelhaften Ossian den ganzen Enthusiasmus der brausenden, nach Leben und Originalität begehrenden Jugend erweckte und nährte. Die meisten glaubten durch Nachahmung der vermeinten Formlosigkeit Shakespeares seine gewaltige Wirkung zu erreichen, und so entschiedene Anstrengung die damalige Bühne auch machte, mit der dramatischen Dichtung in Verbindung zu bleiben, so war die Entstehung zahlloser Buchdramen um so weniger zu hindern, als in sehr vielen Fällen das Drama nur den Vorwand abgab und Szenen und Dialoge zum Vehikel der gärenden Neuerungsideen und selbst, wie bei Lenz, subjektiver Grillen, ja Verrücktheiten dienten. Zu den Geniedramatikern gehörten M. F. Klinger (1752 bis 1771), dessen wildleidenschaftliche Dramen und spätere Romane uns Geist und innere Widersprüche der Zeit ebenso vergegenwärtigen, wie dies das Leben des Dichters selbst thut; M. Reinhold Lenz (1750 bis 1792), der in den Dramen: "Der Hofmeister", "Die Soldaten" und "Der neue Menoza" Fratze und lebensvolle Genialität unerquicklich verband; Friedrich Müller ("Maler Müller", 1750-1825), dessen "Pfalzgräfin Genoveva" und "Faust" wenigstens Ansätze zu echter Charakteristik und Lebensdarstellung enthielten; Fr. v. Goué (gest. 1789), Heinrich Leopold Wagner (1747-83), Ludwig Philipp Hahn (1748-87), J. F. ^[Johann Friedrich] Schink (1755-1834) u. a. An Goethes "Götz von Berlichingen" schlossen sich die Verfasser von Ritterdramen, Jakob Maier (1739-1784, "Fust von Stromberg", "Der Sturm von Boxberg"), J. A. ^[Joseph August] v. Törring (1754-1826, "Kaspar der Thorringer", "Agnes Bernauerin"), Franz Marius v. Babo (1756-1822, "Otto von Wittelsbach"), an. Eine andre Gruppe von Dramatikern übertrug den Sturm und Drang, das Verlangen nach neuem Leben und die Darstellung desselben ins Bürger-^[folgende Seite]