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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Drama

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Drama (das antike Drama).

wandten des Verstorbenen und dem einstimmenden Volk vor der Bestattung des Toten vorgetragen und dargestellt worden sei. Einige Gelehrte wollen (angeblich mit Unrecht) das Hohelied Salomonis als eine fortschreitende Handlung mit abwechselnden Einzel- und Chorgesängen und als Anfang des Dramas bei den Hebräern angesehen wissen. Reicher entfaltet tritt dasselbe, obgleich erst verhältnismäßig spät und vielleicht nicht ohne griechischen Einfluß, bei den Indern auf, wo sich auch die Anfänge dramaturgischer Regeln finden. Sie unterscheiden ein höheres, aus Scherz und Ernst gemischtes Schauspiel, das belehren, und ein niederes Lustspiel, das nur (mit derben Späßen, Wundern und Zauberpossen) die Masse ergötzen will. Die einzelnen Teile der Handlung, Exposition, Peripetie und Katastrophe (welch letztere, da das indische D. keinen tragischen Schluß kennt, meist durch Dazwischenkunft eines Wunders zum Besten gelenkt wird), treten deutlich auseinander, ebenso Haupt- und Nebenhandlung; auch die Besonderheiten der einzelnen Kasten und Berufsarten sowie der Geschlechter werden (sogar durch den Gebrauch verschiedener Sprachdialekte) gekennzeichnet; im ganzen aber bleibt die Verknüpfung der Begebenheiten eine lose und besteht der Hauptreiz der Dichtung in der oft überraschend schönen Ausmalung des Einzelnen in Denkart und Sprache. Gipfel der indischen Dramatik sind die Werke des Kalidâsa (wahrscheinlich im 3. Jahrh. n. Chr.), dessen "Sakuntala", das erste indische D., das (durch W. Jones) nach Europa verpflanzt wurde, die Liebesgeschichte der Brahmanentochter Sakuntala und des Königs Duschmanta, und dessen "Vikramorvasi" die Liebe des Pururavas zur Nymphe Urvasi (der Sonne zur Morgenröte) behandelt. Aber auch Konversationsstücke, die in der höhern menschlichen Gesellschaft spielen, Intrigenstücke und allegorische Dramen sind auf der indischen Bühne zu Hause. In Peru fanden die spanischen Konquistadoren bei den Eingebornen ein in der Quichuasprache abgefaßtes D., "Ollanta" (deutsch von J. J. ^[Johann Jakob] v. Tschudi und Graf Wickenburg, 1875), vor, das öffentlich aufgeführt wurde, und dessen Inhalt der einheimischen Geschichte der Inkas von Cuzco entnommen war.

Innerhalb Europas erwuchs das D. zuerst in Griechenland aus den dem ägyptischen Totendrama verwandten, unter Beteiligung des Volkes dargestellten Mysterien (einer Art geistlichen Schauspiels) zu Eleusis, insbesondere aus dem Dionysosdienst, bei dessen Festen der Lauf der Jahreszeiten, der Kampf der blühenden Natur mit den winterlichen Todesmächten, ihr Erliegen und ihre siegreiche Auferstehung im Frühling als Thaten und Leiden des Gottes und Symbol der Geschicke und Hoffnungen der menschlichen Seele gefeiert wurden. Männer und Frauen, von den Schicksalen des Gottes ergriffen, legten die Kleider der Genossen desselben, Kranz und Pantherfell an, ergriffen den Thyrsos und stellten so verkleidet das Gefolge des Gottes dar, das, zum Chor vereinigt, den Festgesang (Dithyrambos) unter Mimik und Tanz aufführte. Das Ganze erhielt, weil der Tanz sich um das brennende Opfer eines Bockes bewegte, den Namen Tragödie ("Bocksgesang"), wurde später vom Bakchos auch auf andre Heroen übertragen, zugleich aber neben den ernsten Gesängen auch der Vortrag possenhafter Lieder und Schwänke im Gewand und nach Art der den Gott begleitenden Satyrn und Faune eingeführt, aus welch letztern die Komödien und Satyrspiele entsprangen. Thespis, zur Zeit des Peisistratos in Athen, legte den Grund zum eigentlichen D., indem er den Reigenführer aus dem Chor treten und als Schauspieler in der passenden Maske Geschehenes als ihm selbst geschehend vortragen ließ. Äschylos fügte den zweiten Schauspieler und damit den Dialog, das D. der Folgezeit aber noch einen dritten Mitwirkenden hinzu. Das D. selbst nahm eine kunstmäßige Form an, indem das ernste oder heitere Los des Helden nicht als zufällig oder willkürlich, sondern als Folge seiner That, als notwendig begründet dargestellt und damit die Geschlossenheit der Handlung erreicht wurde. Dadurch aber, daß dasselbe bei Beginn der Handlung erst bevorstehend, also (ob gehofft oder gefürchtet) noch ungewiß (obgleich vermutet) war, trat an der Stelle bloß epischer (durch ein Vergangenes) oder lyrischer (durch ein Gegenwärtiges bestimmter) Gemütserregung die dramatische, d. h. durch die Vorstellung eines Künftigen verursachte, Gemütsstimmung (erwartungsvolle Spannung) sowohl bei den Personen des Chors auf als bei den Zuschauern des Schauspiels vor der Bühne ein, da sie nicht mehr einem vergangenen, also bekannten, sondern einem vor ihren Augen sich erst entwickelnden, also teilweise noch unbekannten Geschick gegenüber sich befanden. Der aus der ursprünglichen Gestalt der Dionysosfeste beibehaltene Chor wurde nun ein Teilnehmer oder doch teilnahmsvoller Zuschauer der sich vollziehenden Handlung, während er vorher nur ein gefühlvoller Zuhörer einer als vollzogen erzählten gewesen war. Dadurch wurde zwar der dramatische Charakter der Darstellung erhöht, die ununterbrochene Gegenwart des Chors bot aber nichtsdestoweniger für die dargestellte Handlung, die nun so eingerichtet werden mußte, daß jene nicht unmotiviert erschien, keine unbedeutende Schwierigkeit. Nicht nur mußte dieselbe, soviel irgend möglich, ins Freie verlegt, sondern sie mußte auch auf eine so kurze Zeit wie irgend thunlich beschränkt und der Ort ihrer Vollziehung sowenig wie möglich gewechselt gedacht werden. Folge davon war, daß das in erzählender Form Vorgetragene im griechischen D., gegen das als unmittelbar gegenwärtig Geschaute gehalten und mit unsrer modernen Gewohnheit, so vieles als möglich auf die Bühne selbst zu verlegen, verglichen, einen unverhältnismäßigen Raum einnimmt, weil, mit geringen Ausnahmen, was im Innern des Hauses und alles, was nicht an dem unveränderlichen Orte der Handlung selbst sich ereignet, durch Boten berichtet werden muß. Rechnet man noch die Chorgesänge hinzu, so wird im griechischen D. durch die nicht dramatische (epische und lyrische) die dramatische (monologische und dialogische) Vortragsform erheblich eingeschränkt. Dasselbe suchte daher den Verlust an Anschaulichkeit, welchen der Ausfall des an andern (als dem Orte der Handlung) Orten vor sich Gehenden herbeiführt, durch Erhöhung derselben für das am Ort selbst Geschehende wett zu machen und bediente sich dazu der die Lokalität der Handlung nachahmenden Dekoration, welche das indische und chinesische D. nicht kannte. Bei diesen, deren Bühne in einem Brettergerüst bestand, fand der freieste Ortswechsel innerhalb der Handlung statt, und sie überließen es dem Zuschauer, sich die Umgebung der Handelnden in seiner Phantasie auszumalen. Die Griechen hingegen, indem sie während der Handlung den Ort nicht wechselten, ahmten letztern sichtbar auf der Schaubühne nach. Dieselbe stellte eine Straße, einen Platz oder eine freie Gegend dar, an oder in welcher ein Tempel, der Palast oder das Wohnhaus der Personen des Dramas lag, dessen Inneres, wenn erforderlich, durch eine besondere Maschine (Ekkyklema) nach außen gekehrt werden konnte.