Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Epos

710

Epos (Allgemeines, Einteilung).

sein. Dem epischen Helden wird sein Los verhängt, der dramatische verhängt es sich selbst. Sollen daher die erzählten Begebenheiten durch eine andre als durch die lockere Einheit derselben Zeitlinie verbunden sein, in welche sie fallen, so kann dies nur durch die Einheit der leitenden Person (des epischen Helden) oder der thätigen Mächte (der leitenden Götter- oder Schicksalsgewalt) oder beider zugleich sein. Dante, der, von Vergil geführt, die Reise durch die Hölle und das Fegfeuer, von Beatrice geleitet, jene durchs Paradies vollführt, ist der epische Held, dessen Einheit die Teile des epischen Gedichts zu einem Ganzen verknüpft, wie die Person des Odysseus die Schiffermärchen der "Odyssee". Dagegen ist die Einheit der "Ilias" nicht sowohl in der Einheit der Person des Achilleus, seines Streits und seiner Versöhnung mit Agamemnon, welche den Inhalt des E. keineswegs erschöpft, als vielmehr in derjenigen der leitenden Götterwelt begründet, von welcher das Schicksal der Kämpfer um Troja bedingt ist. Die Einheit der Person macht die Erweiterung des E. durch An- oder Einfügung weiterer Begebenheiten, welche derselben Person widerfahren, die Einheit der leitenden Mächte eine solche durch Ausdehnung der Erzählung auf weitere Ereignisse möglich, welche derselben Schicksalsgewalt entsprungen sein sollen. Wie jener nur durch die Grenze der Lebens-, wird dieser nur durch die Grenze der Herrschaftsdauer (Sturz der olympischen Götter durch ein neues Göttergeschlecht: Götterdämmerung) ein Ziel gesetzt; an die Person des wandernden Helden schießen kristallartig Erlebnisse wie an die Gestalten der waltenden Götter Verhängnisse über sterbliche Menschen an. Während das Drama in seinen Charakteren und der Situation einen grundlegenden Anfang, in seiner Katastrophe ein abschließendes Ende besitzt, läßt das E. vor und nach dem durch seine Begebenheiten ausgefüllten Zeitabschnitt Zeiträume zur Ausfüllung mit weitern Schicksalen des Helden oder mit weitern Schicksalsbestimmungen der Götter frei: Achilleus' Schicksalen vor Troja gehen jene des Paris vor dem Krieg der Zeit nach voran, folgen jene desselben Helden nach Achilleus' hinterlistiger Erlegung nach. Die Entstehung des E. aus einzelnen Liedern, deren jedes die Begebenheit nur eines oder weniger Zeitmomente, deren Zusammenfassung aber die Begebenheiten einer ganzen Zeitreihe von beträchtlichem Umfang umfaßt, ist durch die lockere Einheit der Person (des einzelnen Helden oder seines ganzen Geschlechts in auf- und absteigender, ja sogar in den Seitenlinien: Lajos' Haus; die Atriden; die Nibelungen; Marko Kraljevic u. a.) oder der waltenden Mächte (die olympische, indische, nordische Götterwelt; das Reich des Lichts und der Finsternis im persischen, Himmel und Hölle, Christus und Satan im christlichen E.) nicht nur möglich, sondern bei vielen derselben (wie beim Homerischen, indischen, serbischen E.) sogar wahrscheinlich gemacht. Gegen die auf diesem Weg liegende Gefahr eines "unendlichen E." (desgleichen die Weltgeschichte ist) gilt die Warnung des Aristoteles, daß das E. sowenig wie die Tragödie (d. h. das Drama überhaupt) eine gewisse die Überschaubarkeit hindernde Ausdehnung überschreiten, noch unter einer solchen im entgegengesetzten Sinn zurückbleiben solle. Die Abschnitte des Dramas, das eine in der Zeit sich bewegende Handlung ist, werden durch die Ruhepunkte der Handlung, jene des E. dagegen, das eine sich durch die Zeit ausdehnende Erzählung ist, durch die Abschnitte der Zeit, welche die letztere braucht, festgesetzt. Daß die Stillstände der Erzählung jedesmal mit einem Stillstand des Erzählten zusammenfallen, ist dabei allerdings möglich, aber keineswegs notwendig. Nicht bloß der Märchenerzähler (Scheherezade), sondern auch der epische Dichter (Ariost) bricht seine Erzählung ebenda ab, wo sie am spannendsten wirkt; jener verschiebt die Fortsetzung auf den folgenden Tag, dieser auf den folgenden (d. h. am folgenden Tag vorzutragenden) Gesang. Die Märchen der "Tausendundeine Nacht", die Erzählungen des Dekameron, Heptameron sind nach Tagen eingeteilt; die Gesänge des für die Recitation, wie das Drama für die Aufführung (nicht zur Lektüre), bestimmten E. sind bestimmt, tagweise vorgetragen zu werden. Dieselben haben daher, wie die regelmäßigen Zeitabschnitte (Stunde, Tag, Jahr), untereinander gleiche Länge, gleichviel welche Zeit das Erzählte umfassen mag. Die Zahl der Akte im Drama ist durch die Geschlossenheit der Handlung und deren organischen Fortschritt bestimmt, die Zahl der Gesänge im E. willkürlich. Nicht nur die gleichzeitigen Begebenheiten verschiedener Personen können zusammen verwoben (Mehrheit epischer Helden), sondern Begebenheiten einer frühern Zeit können der Erzählung der gegenwärtigen eingeflochten werden (Episoden). In der Regel hat der Erzähler allein das Wort; er kann dasselbe an einen seiner Helden abtreten, der es im eignen oder wieder im Namen eines andern führt. Die lebhaftere Darstellungsweise, welche dadurch entsteht, ist der dramatischen ähnlich, so daß manches epische Gedicht sich mit Leichtigkeit in ein dramatisches verwandeln ließe (z. B. das Gespräch des Glaukos und Diomedes bei Homer), aber nicht gleich. Der epische Dichter stellt auch diese den Helden selbst in den Mund gelegten Reden als geschehene (nicht als geschehende), als bloße Begebenheiten dar; das historische Präsens ist ganz vom dramatischen verschieden.

Die Einteilung des E. geht wie jene des Dramas entweder von der Beschaffenheit der Form (der Erzählung) oder des Inhalts (des Erzählten) aus. In ersterer Hinsicht läßt sich das autobiographische, in welchem der Dichter seine persönlichen, von dem biographischen unterscheiden, in dem er die Schicksale andrer erzählt. Letztere sind die zahlreichern (Homer, Nibelungen, Tasso, Ariost, Milton, Klopstock u. a.); von jenem gibt ein Beispiel Dantes "Divina Commedia", in welcher der Dichter seine Wanderung durch Hölle, Fegfeuer und Paradies berichtet. In letzterer Hinsicht entscheidet (ähnlich wie beim Drama) die Natur des dargestellten Glückswechsels. Findet derselbe vom Bessern zum Schlimmern statt, so entsteht, wenn der Ausgang Furcht und Mitleid erweckt, das ernste E. (Untergang Trojas durch Hektors Tod in der "Ilias"; das Ende der Nibelungen; die Götterdämmerung der Edda; Miltons "Verlornes Paradies"); wenn er dagegen nur Lachen erregt (weil der Held keinen wirklichen Schaden nimmt), das komische E. (Popes "Lockenraub"; Zachariäs relegierter "Renommist"). Jenes entspricht, wie schon Aristoteles angemerkt hat, dem Trauer-, dieses dagegen dem Lustspiel. Findet der Umschwung dagegen vom Schlimmern zum Bessern statt, so entsteht, wenn die ursprüngliche Lage eine wirklich qualvolle, die am Schluß vorhandene eine wirkliche Befreiung ist, das erlösende E. (Homers "Odyssee"; Dantes "Göttliche Komödie"; Tassos "Befreites Jerusalem"; Ariostos "Rasender Roland"; Klopstocks "Messias"), von dem das sogen. bürgerliche E. (Goethes "Hermann und Dorothea") eine Unterart darstellt. Ist dagegen das Unglück wie das Glück so unbedeutend, daß beide