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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Epos

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Epos (bei verschiedenen Völkern).

Sängergeschlecht vertrat. Auch hier wie bei den Indern, gehört das E., welches den "Untergang Ilions und des Volkes des lanzenkundigen Königs" besingt, der tragischen, dasjenige, welches den Sieg des "Dulders" Odysseus über das Ungemach der Meerfahrt und die nach seiner Gattin lüsternen Freier feiert, der erlösenden Gattung an. Wie im indischen E., erscheinen auch hier die führenden Götter in menschlicher, die Beschützerin des Odysseus und seines Sohns in Mentors, des erziehenden Freundes des letztern, Gestalt. An die Homerischen Epen, "wie Planeten um die Sonne", reihen sich (seit 777 v. Chr.) die sogen. cyklischen Dichter, die Sage von Troja ergänzend oder andre Sagenstoffe, wie die Sagen von Theben, Athen und Mykenä (das Haus des Lajos, Theseus, Herakles), besingend.

In Rom, wo (nach Schwegler) alle Bedingungen zu einem Volksepos nach Art des Homerischen fehlten, entstand durch Vergil (70-19 v. Chr.) ein Kunstepos, das der Augusteischen Litteraturblüte angehört und die zuerst von Ennius (239-169) nach griechischem Muster episch erzählte Äneassage behandelt, durch welche die italische an die hellenische Sage (von Troja) sich anschließt. Das Wunderbare, das bei Homer im Einklang mit dem reinen Volksglauben hervortrat, ist für die nüchterne Aufklärung der Kaiserära zur hohlen Maschinerie geworden; im Vergilischen E. scheint (nach Hegel) "der gewöhnliche Tag". Dasselbe hat daher vielfach dem E. der neuern, in ihrer Reflexion dem klassischen Zeitalter Roms verwandten Zeit und Bildung zum Muster gedient, während das ursprünglich heidnische und seit der Annahme des Christentums christianisierte E. der Slawen, Kelten und Germanen durch seinen religiös-gläubigen Hintergrund dem Homerischen E. näher steht.

Die Slawen, wie sie am spätesten ihre ursprünglichen Sitze verlassen haben und zum Teil erst seit kurzem geschichtliche Völker geworden sind, stehen der Bildungsstufe des epischen Zeitalters im ganzen am nächsten; ja, einige Stämme derselben, wie die Serben, "leben ihre Poesie" (Talvj), daher sich bei ihnen eine der Homerischen verwandte Heldendichtung bis auf unsre Tage im Schwange erhalten hat. Die Heldensage der Russen gruppiert sich um Wladimir ("die helle Sonne der weißen Stadt Kiew", um 1000 n. Chr.) und, im Gegensatz gegen die Könige, Fürsten und Edlen der übrigen arischen Heldengesänge, um den Bauernsohn Ilja, den edelsinnigen Helden, die Verkörperung der Volkskraft wie des Volksgemüts, hat aber kein zusammenhängendes E. geschaffen. Volksheld der Serben ist der Königssohn Marko, der nach 300jährigem Kampf mit den Ungläubigen sich in eine Höhle zurückgezogen hat, und von dessen Wiederkehr das Volk bessere Tage hofft, ähnlich wie auch "Kalewala", das E. der Finnen, mit der Hoffnung auf eine schönere Zukunft schließt. Die Heldensage der Kelten gruppiert sich in Irland und Schottland um den gälischen Helden Fin, dessen Sohn Oisin (Ossian) Macpherson seine Nachdichtung des "Fingal" in den Mund gelegt hat; in der Bretagne um Morvan; in England und Wales um den Zauberer Merlin, König Artus und seine zwölf Ritter der Tafelrunde, deren Zahl und Abenteuer nach der Einführung des Christentums in dem ehemaligen römischen Gallien auf Karl d. Gr. und seine Paladine übertragen worden sind. Träger des epischen Volksgesanges waren bei den Kelten die den Rhapsoden der Griechen und den "Blinden" der Serben ähnlichen wandernden Volkssänger, die Barden. Ihnen glichen die nordischen Skalden, die Träger des ältesten germanischen Heldengesanges der skandinavischen Stämme, dessen Lieder auf Island um 1100 n. Chr. unter dem Namen der (ältern) Edda ("Großmutter") gesammelt wurden. Gegenstand derselben ist der Kampf der guten Götter (der Asen) mit den bösen (Loki), der mit der "Götterdämmerung", d. h. dem Untergang der erstern, endet. Aus den Liedern von Sigurd, dem Drachentöter, der das Gold der Überirdischen geraubt und seiner Verlobten, der Heldenjungfrau Brunhilde, die Treue gebrochen hat, indem er sie unerkannt für einen andern gewinnt und sich selbst mit dessen Schwester vermählt, aber, dafür auf ihr Anstiften heimtückisch ermordet, in den Flammen des Scheiterhaufens, in welche sie freiwillig sich stürzt, wieder mit ihr vereinigt wird, ist das deutsche E. der "Nibelungen" hervorgegangen. Die Völkerwanderung der germanischen und hunnischen Stämme brachte die gotische Stammsage von Dietrich von Bern (dem Ostgoten Theoderich) und die hunnische von Etzel (Attila), die mit der nordischen zum germanischen Volksepos verschmolzen wurden.

Nach der Eroberung des römischen Reichs durch die Deutschen, der Christianisierung und teilweisen Romanisierung eines Teils der germanischen Stämme nimmt das E. selbst christlichen, jenes der romanisierten Stämme (Goten, Franken, Normannen, Angelsachsen) auf altkeltischem Boden keltischen Charakter an. An die Stelle des Kampfes mit Drachen und bösen Göttern tritt der mit den Ungläubigen, den Arabern in Gallien und Spanien, den Sarazenen im Morgenland und in Palästina, dem Zweifel und der Sünde in der eignen Brust. Held des E. wird der christliche Ritter: Karl d. Gr., den die Sage mit Karl Martell identifiziert, mit seinen Paladinen, besonders Roland, in Frankreich ("Rolandslied"); Ruy Diaz, genannt der Cid Campeador, in Spanien (Romanzen vom Cid); König Artus und seine Tafelrunde als Hüter des heiligen Grals, des Symbols des höchsten Guts des Christentums (das "E. vom innern Menschen", sein Gang vom Glauben durch Zweifel zum Heil in "Parzival" und "Titurel" des Wolfram von Eschenbach). Die höchste Stufe des christlichen als des erlösenden E. nach mittelalterlich-katholischer Auffassung stellt die "Göttliche Komödie", Dantes Gang durch Hölle, Fegfeuer und Paradies, als Symbol der Vollendung aller Dinge in Gott dar. Durch die Auflösung der Scholastik und die Wiedererweckung des klassischen Heidentums im Zeitalter der Renaissance einerseits, die innere religiöse Vertiefung in das Wort der Schrift und den Gegensatz gegen die Verweltlichung der Kirche in jenem der Reformation anderseits wurden zwei neue Gattungen des E. begründet, deren eine vornehmlich bei katholischen, die andre bei protestantisch gewordenen Völkern Pflege und Anklang fand. Das E. der Renaissance beruhte, wie diese selbst, aus der Gleichgültigkeit gegen das Christentum, dessen Wunder für sie nicht mehr und nicht weniger Glaubwürdigkeit besitzen als jene des Heidentums, daher sie keinen Anstand nimmt, jene wie diese als bloße "epische Maschinerie" zu verwenden. Das E. der Reformation dagegen beruht, wie diese selbst, auf dem bewußten Gegensatz gegen den römischen Katholizismus, schließt jedes andre als das in der Bibel beglaubigte Wunder von sich aus, aber (im Gegensatz gegen das glaubenslose E. der Renaissance) den Glauben an das biblische Wunder (Schöpfung, Fall, Erlösung) in sich ein. Repräsentanten des erstern, das Wunderbare des Heiden- und des Christentums (Jupiter und den "Gekreuzigten") phantastisch vermengenden E. sind Ariost ("Der rasende Roland" als Fortsetzung von Bojardos "Verliebtem Roland") und