Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Esthland

871

Esthland (Geschichte).

zen eine Mächtigkeit von etwa 1,7 m erreichen. Nach L. v. Buch stimmt der esthländische Kalkstein durch seine Versteinerungen vollkommen mit dem von Gotland überein und muß, wie dieser, zur Übergangsformation gerechnet werden. Das Klima ist im Innern des Landes infolge der Sümpfe und Moräste unfreundlich und sehr veränderlich, im Sommer oft drückend heiß und im Winter kalt. Auf den Inseln und an der Küste mildert die See die schroffen Übergänge. Westwinde herrschen vor und sind oft sehr heftig. In Reval beträgt die mittlere Jahrestemperatur +4,1° C., wovon sich auf den Winter -6,1, auf den Frühling +1,4, auf den Sommer +15,6 und auf den Herbst +5,6° verteilen. Die Zahl der Regen- und Schneetage beträgt jährlich 129-130, die Menge des Regens und der sonstigen atmosphärischen Niederschläge = 478 mm.

Die Bevölkerung (1882: 379,875 Seelen, d. h. 19 auf 1 qkm) bekennt sich größtenteils zur protestantischen Religion, nur 4 Proz. gehören der griechisch- und der römisch-katholischen Kirche an. Die Zahl der Lebendgebornen betrug 1884: 11,704, die der Gestorbenen 8453, die der geschlossenen Ehen 2741. Die städtische Bevölkerung repräsentiert gegen 16 Proz. der Gesamtbevölkerung. Zwischen Esthen und Esthländern unterscheidet man. Unter den erstern versteht man die eingeborne ländliche Bevölkerung, der letztere Ausdruck wird vorzugsweise für die im Land geborne deutsche Bevölkerung gebraucht. Die Esthen reden der großen Mehrzahl nach ihre eigne Sprache (s. Esthen), die Esthländer sprechen deutsch. Deutsch ist die Sprache, in welcher alle alten Gesetze abgefaßt sind, sowie die Umgangssprache der Gebildeten und die Sprache des höhern Unterrichts. Erst in der neuesten Zeit fing auch das Russische an, sich neben dem Deutschen Platz zu machen. Natürlich wird auch deutsch gepredigt, nur für die Bauern esthnisch. Auf einigen Inseln und im Küstengebiet wohnen ca. 5000 schwedische Bauern, denen schwedisch gepredigt wird.

Der Boden ist nicht sehr ergiebig, liefert jedoch infolge einer rationellen Bewirtschaftung Getreide über Bedarf. Der Ackerbau bildet die Hauptbeschäftigung der Einwohner. Die Hauptprodukte sind Roggen, Hafer, Gerste und Kartoffeln, weniger Weizen, Buchweizen, Hanf und Flachs. Der durchschnittliche Reinertrag der Kornproduktion wird auf mehr als 2 Mill. hl geschätzt (1884: 2,078,769 hl Getreide, 50,000 hl Erbsen und 3,396,000 hl Kartoffeln). Man baut außerdem viel Gemüse aller Art; dagegen vernachlässigt der Bauer die Obstbaumzucht und begnügt sich mit den wilden Beeren, die er überall in großem Überfluß findet. Die Waldungen bestehen großenteils aus Nadelhölzern; doch gibt es auch viele Birken, Erlen und Weiden. Man findet in ihnen Wölfe, Bären, Füchse, Hasen, bisweilen auch Elentiere. Die Viehzucht ist bedeutend; 1873: 63,620 Pferde (meist von der kleinen, aber ungemein kräftigen und gutartigen esthnischen Rasse), 189,672 Stück Rindvieh, 241,236 Schafe, 52,000 Schweine und 1566 Ziegen. Von der Gesamtfläche des platten Landes kamen 1873 auf das Ackerland 16,58, auf das Wiesenland 25,47, auf das Weideland 16,28, auf die Holzung 18,98 und auf die Moräste etc. 22,68 Proz. An der Küste wird viel Fischerei getrieben, besonders Strömlingsfang. Die Bauern weben Leinwand und gute Wollzeuge zur Kleidung, und auf den Inseln baut man Barken. Abgesehen von den Mühlen, zählte man 1884: 202 Fabriken und diesen ähnliche gewerbliche Etablissements mit gegen 7000 Arbeitern und einem Produktionswert von 28 Mill. Rubel. Bedeutend ist die Branntweinbrennerei, mit der sich 157 Fabriken beschäftigen, die 158 Mill. Grad Spiritus erzeugten. Die größte Fabrik ist die Baumwollspinnerei und Weberei von Kröhnholm, deren Produktionswert 9 Mill. Rubel beträgt, und die 4253 Arbeiter beschäftigt. Zu den übrigen Fabriken gehören eine Tuchfabrik, 6 Lederfabriken, eine Papierfabrik, eine Lackfabrik, eine Zementfabrik, 5 Eisengießereien und mechanische Werkstätten, 2 Betriebe zur Anfertigung von Marmorsachen, 2 Glashütten, 2 Zündholzfabriken, 3 Dampfsägemühlen etc. Außerdem gibt es etwa 46 Bierbrauereien, 29 Metbrauereien, 6 Destillaturen.

Der Handel beschränkt sich größtenteils auf die Hafenplätze Reval, Baltischport, Kunda und Hapsal und leidet durch den Mangel an schiffbaren Flüssen, hat aber seit Erbauung der Baltischen Eisenbahn (1870), welche von Baltischport über Reval direkt nach St. Petersburg und vermittelst einer Zweigbahn nach Moskau führt, infolge des Umstandes, daß die Häfen von Reval und Baltischport im Winter sehr viel länger vom Eis frei sind als Kronstadt, einen kolossalen Aufschwung genommen. Der Wert der Einfuhr zur See über Reval bezifferte sich 1884 auf 69,4 Mill. Rubel, über Baltischport auf 367,274 Rub.; der Wert der Ausfuhr betrug über Reval 19,4 Mill. Rub., aus Baltischport wurde 1884 nichts exportiert (1883 für 1 Mill. Rub.). Die Einfuhr besteht in roher Baumwolle, Maschinen und Maschinenteilen, Manufakturwaren, Wolle, Südfrüchten, Heringen, Salz, Steinkohlen, Wein etc.; die Ausfuhr in Spiritus, Korn, Flachs. An Unterrichtsanstalten hat E. (1. Jan. 1878) 3 klassische Gymnasien, 29 Real-, Bürger-, Kreis- und Töchterschulen, 22 städtische Elementarschulen und 543 Landvolksschulen, darunter 12 Mittel-, sogen. Parochialschulen. Es kommt auf dem Land eine Volksschule auf 575 bäuerliche Einwohner. Die ländlichen Schulen wurden besucht von 21,961 Kindern beiderlei Geschlechts, es kam also ein Schulkind auf ca. 14 Einwohner. Zur Heranbildung von Lehrern für diese Volksschulen wurden von der Ritter- und Landschaft zwei Seminare unterhalten. E. hat seinen besondern Landtag, auf welchem aber nur die Gutsbesitzer erscheinen, und welcher alle drei Jahre zusammentritt. Die Verwaltung ist wie im übrigen Rußland eingerichtet; für die Rechtspflege ist in oberster Instanz der Senat in St. Petersburg, in der zweiten Instanz ein Oberlandesgericht kompetent. E. zerfällt in die vier Kreise: Harrien, Jerwen, die Wiek und Wierland. In der Provinz selbst bedient man sich noch der alten Benennungen der sogen. Hakendistrikte und teilt sie in zwölf ein, welche die Namen Ost-, Süd- und Westharrien, Allentacken, Land- und Strandwierland, Waiwara, Ost- und Südjerwen, Land-, Strand- und Insularwiek führen. Die Hauptstadt ist Reval. Wappen: drei liegende hellblaue Löwen im goldenen Feld.

[Geschichte.] In der ältesten Zeit lebten die Esthen zwischen Düna und Newa von Fischfang, Viehzucht, Ackerbau, daneben auch von Jagd und Seeraub. Lange widerstanden sie dem Christentum, das seit dem 13. Jahrh. unter ihnen Verbreitung fand infolge des von dem dänischen König Waldemar II. 1219 unternommenen Kreuzzugs, wodurch E. an Dänemark kam; um jene Zeit wurde auch das Bistum Reval gestiftet. Da das Land ein unsicherer Besitz war und stete Streitigkeiten auch mit den Schwertrittern, die darauf Anspruch machten, stattfanden, so verkaufte Waldemar III. 1346 das Land für 19,000 Mark Silber an den Deutschen Orden, und es bildete nun einen Teil Livlands. Die Esthen sanken besonders infolge wiederholter Auf-^[folgende Seite]