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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Europa

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Europa (politische Verhältnisse).

Halbinseln u. Inseln, ganz ausschließlich vielleicht nur auf Island. Die Ost- und die Nordsee werden auf allen Seiten und in allen ihren Teilen von Protestanten umwohnt; nur am Eingang des Kanals u. an der Weichselmündung berühren römisch-katholische, an der Newamündung griechische Kirchenangehörige die Süd- und Ostgestade dieser Meere. Dagegen bleiben die Protestanten, bis auf wenige, nicht sehr zahlreiche Kolonien (am Golfe du Lion, auf Malta und einigen Punkten der pontischen Küste), den Gestaden aller Teile des Mittelmeers fern. Auf der Ostseite des Bottnischen, Finnischen und Rigaischen Busens verschmelzen sie sich mehr und mehr mit den Anhängern der griechischen Kirche, und einzelne Gemeinden haben weit im Innern der großen sarmatischen Ebene eine Heimat gefunden. Die römischen Katholiken haben sich auch im N. Europas in mehreren Gegenden in großer, ja in vorherrschender Zahl behauptet, so in Irland, im Gebiet der Weichsel und der rechten Nebenflüsse der obern und mittlern Oder, am Frischen Haff und an der Passarge. In den mittlere Gegenden des Erdteils herrschen sie im obern Elb-, im obern und mittlern Donaugebiet, mit Ausnahme des Mündungslandes auch an den Ufern des Rheins und im W. dieses Stroms entschieden vor, wenngleich sich in allen diesen Gegenden auch protestantische Bewohner, namentlich auf den Gebirgen, in nicht geringer Zahl vorfinden. Das Gebiet der griechischen Kirche ist demnach fast doppelt so groß als das der beiden andern zusammengenommen, während das der evangelischen Kirche dem der römischem an Ausdehnung nicht unbedeutend nachsteht. Der Seelenzahl ihrer Bekenner nach ist die römisch-katholische Kirche mit etwa 156 Mill. Anhängern (darunter etwa 140,000 Altkatholiken) die in E. entschieden vorwaltende, während die Zahlen der auf dem kleinsten Gebiet lebenden Evangelischen, mit 76 Mill., und der auf dem größten wohnenden griechischen Christen, mit 82 Mill., einander fast gleich sind. Dazu kommen 5 Mill. Anhänger christlicher Sekten.

Politische Verhältnisse.

(Vgl. die "Staatenkarte von Europa".)

Auch in betreff der politischen Verhältnisse läßt sich nicht verkennen, daß durch den Einfluß christlicher Gesittung u. den vielfachen Wechselverkehr der Staaten Europas untereinander dieselben, den politischen Verhältnissen Asiens und Afrikas gegenüber, ein gewisses gemeinsames europäisches Gepräge tragen, wenn auch erst die letzte Zeit dasselbe in dem bis dahin mehr im asiatischen Geist, mit rücksichtsloser Gleichgültigkeit gegen das menschliche Individuum regierten russischen Reich mehr hervortreten läßt; selbst in der europäischen Türkei, wo noch ganz orientalischer Despotismus zu Haus ist, sind Versuche dazu, wenigstens auf dem Papier, gemacht worden. Mannigfaltig, wie die Formen des Erdteils, sind auch die Staatsformen seiner Bewohner. E. besitzt Monarchien und Republiken, doch sind die letztern nicht allein in der Minderzahl, sondern auch in Bezug auf ihr politisches Gewicht von nicht überwiegender Bedeutung, die monarchischen dagegen mehrfach in einer Weise ausgeprägt, welche sie den republikanischen nahestellt. Nur im einförmigen Osten herrscht noch in diesem Augenblick gesetzlich der Wille eines Einzelnen; dagegen haben die Kulturverhältnisse des reicher individualisierten Westens diese despotisch-patriarchalische Form für die Dauer unmöglich gemacht. Daher finden wir im ganzen germanischen und romanischen Westen gegenwärtig gesetzlich konstitutionelle Regierungsformen, freilich in den verschiedensten Graden der Teilnahme und des Einflusses, den Herrscher und Völker auf die Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse ausüben: von den konstitutionellen Verfassungen Deutschlands und Italiens mit dem gesetzlich festgestellten, entschiedenen Einfluß des Herrschers bis zu den Verfassungen Englands, Dänemarks und Norwegens, von denen das erstgenannte Land eine mehr aristokratische, Dänemark und Norwegen mehr demokratische Republiken sind, nur mit bleibender, erblicher Spitze, während Frankreich sich neuerdings wieder eine republikanische Verfassung gegeben hat. Mannigfaltig, wie die Staatsformen, sind auch der Umfang und die Macht dieser Staaten; Deutschland, der in sich gegliedertste Teil Europas, ist auch politisch am meisten individualisiert.

Von den Völkerfamilien Europas haben es nur die germanische, romanische und slawische zu dauernden staatlichen Bildungen gebracht. Aber die gegenwärtigen Kulturstaaten werden nicht von Völkern Eines Stammes bewohnt. Von den slawischen Reichen hat sich nur eine Nation, die russische, im Besitz einer selbständigen staatlichen Existenz erhalten. Alle übrigen Slawen sind in irgend ein fremdes Staatswesen, namentlich in das verwandte russische oder auch in das benachbarte österreichische und deutsche, besonders das preußische, und selbst in das magyarische und türkische, einverleibt und haben die eigne politische, seltener die in Sitte und Sprache fortlebende nationale Existenz aufgegeben; nur Serbien bildet ein unabhängiges Reich, und Bulgarien steht als gesondertes Fürstentum unter türkischer Oberhoheit. Auf der andern Seite hat der genannte große slawische Staatskörper ein sehr bedeutendes Einverleibungsvermögen bewiesen, indem er viele der zahlreichen, wenngleich in sich schwachen Völkerschaften finnischen und tatarischen Stammes, ebenso die lettischen Stämme und deutsche und schwedische Elemente in sich aufgenommen, obschon bisher noch nicht völlig assimiliert hat. Viel kräftiger zeigt sich das Streben nach politischer Gestaltung in den Völkern der lateinischen Familie. Romanische Staaten sind: Italien, das, bis vor wenigen Jahrzehnten in mehrere unabhängige Staaten geteilt, jetzt zu einem einheitlichen und rein italienischen Staat vereinigt ist, der fast die ganze italienische Nation umfaßt mit Ausnahme des französischen Corsica und einiger Teile der Schweiz und des südlichen Österreich; die beiden Staaten der spanischen Halbinsel: Portugal und Spanien, von denen letzteres einen Teil des Baskenlandes besitzt und im S. maurische Elemente in seine Bevölkerung aufgenommen hat; die Republik der Franzosen, der mächtigste unter den romanischen Staaten, hat im NO. niederdeutsche, im NW. Reste altkeltischer, im SW. baskische Bevölkerungen mit sich vereinigt; Belgien, obgleich mit vorherrschend niederdeutscher Bevölkerung, muß doch bei dem überwiegenden politischen Einfluß des romanisierten Teils derselben als romanischer Staat angesehen werden; auch die Kantone der westlichen und südlichsten Schweiz sind ganz oder teilweise romanisch. Seitdem sich Rumänien der türkischen Oberhoheit entzogen hat, steht nur der kleinste Teil romanischer Stämme unter fremder Herrschaft, außer den erwähnten Italienern die Ladiner Südtirols, die Walachen Ungarns und Siebenbürgens. Mehr als die Hälfte der griechischen Nation ist im Königreich Griechenland vereinigt.

Die mannigfaltigsten und zahlreichsten politischen Gestaltungen zeigen aber die germanischen Völker. Die Deutschen allein bilden gegenwärtig über 50 verschiedene, wenngleich in zwei größere Einheiten (Deutsches