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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Fabrikgerichte; Fabrikgesetzgebung

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Fabrikgerichte - Fabrikgesetzgebung.

triebsformen der modernen Großindustrie (in der "Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft", Bd. 25); H. Grothe, Der Einfluß des Manchestertums auf Handwerk und Industrie etc. (Berl. 1884).

Fabrikgerichte, s. Gewerbegerichte.

Fabrikgesetzgebung (Arbeiterschutz-Gesetzgebung). Die F. ist die besondere Gesetzgebung für Lohnarbeiter in größern Unternehmungen mit Ausschluß der land- und forstwirtschaftlichen und eigentlichen Handelsunternehmungen, welche die Arbeiter gegen solche Nachteile zu schützen bezweckt, die in ihren Arbeitsverhältnissen und in ihrer sonstigen sozialen Lage bei der Freiheit des Arbeitsvertrags und freier Konkurrenz entstehen können. Die F. erstreckt sich wesentlich auf die Regelung der Arbeitsverhältnisse (Arbeitszeit, Art der Beschäftigung, Lohnzahlung, Fabrikordnungen, Streitigkeiten aus dem Arbeitsvertrag, resp. über die Bedingungen desselben etc.), auf die Regelung der Haftpflicht der Unternehmer, der Wohnungsverhältnisse und auf die Einrichtung obrigkeitlicher Organe zur Kontrolle der Arbeiterzustände und zur Durchführung der F. Ursprünglich bezog sich die F. nur auf Fabriken, daher der Name; seitdem die F. erweitert worden, nicht mehr nur Fabriken und Fabrikarbeiter betrifft, wird die Bezeichnung Arbeiterschutzgesetzgebung üblicher. Über die Aufgaben der F. und die an eine rationelle F. in der modernen Volkswirtschaft zu stellenden Anforderungen vgl. Industrielle Arbeiterfrage.

Alle Industriestaaten, mit Ausnahme von Belgien, haben heute eine von Land zu Land sehr verschiedene F. In den meisten ist sie völlig ungenügend, in den übrigen (England, Schweiz, Deutschland, Österreich und einigen Staaten der nordamerikanischen Union) ist sie wenigstens reformbedürftig.

England.

Die älteste und umfangreichste F. hat England. Manche datieren sie von der 1796 erfolgten Einsetzung eines besondern Gesundheitsamtes im Interesse der arbeitenden Klassen, doch wurde das erste eigentliche Fabrikgesetz 1802 gegeben. Erster Grundsatz der bestehenden Gesetzgebung ist, zu gunsten der Arbeiterklasse überall da gesetzliche Maßregeln zutreffen, wo ihre eigne Kraft nicht ausreicht, ihre berechtigten Interessen zu wahren. Die heutige englische F. ist das Produkt eines langen Kampfes gegen den Egoismus des Unternehmerstandes und die Lehren der Manchesterschule (s. d.). Für die Geschichte derselben ist charakteristisch, daß man in Bezug auf die zu schützenden Personen und die einzelnen Produktionsarten nur schrittweise vorging, indem man der Vielgestaltigkeit der gewerblichen Unternehmungen Rechnung tragen wollte und namentlich bemüht war, durch staatliches Eingreifen nicht die Konkurrenzkraft der Unternehmungen und den Fortschritt der Technik zu gefährden. In der Geschichte lassen sich vier Perioden unterscheiden. In der ersten (1802-31) beschränkt sich die F. auf die Schafwoll- und Baumwollindustrie und auf unerwachsene Arbeiter, in der zweiten (1831-53) wird der Schutz ausgedehnt auf alle Arbeiter der Textilindustrie, in der dritten (1860 bis 1870) auf alle Industriezweige und auf die Werkstätten, in der vierten (seit 1878) auch auf die Hausindustrie. In jeder folgenden Periode schützt der Staat nicht bloß eine größere Zahl von Arbeiterklassen, sondern der bisher gewährte Schutz wird auch sachlich ein größerer. 1878 erfolgte die Kodifikation der bisherigen, aus einigen 20 zum Teil sehr umfangreichen Gesetzen bestehenden, immer nur die einzelnen Produktionszweige betreffenden Spezialgesetzgebung.

[Erste Periode.] Das erste Fabrikgesetz war die Moral and Health Act Sir Robert Peels des ältern. Dasselbe bezog sich nur auf Baumwoll- und Schafwollfabriken und auf die sogen. Kirchspielslehrlinge (Pfarrlehrlinge), d. h. die Armenkinder, welche gewissenlose Armenverwaltungen sich dadurch vom Halse schafften, daß sie dieselben in die Fabriken schickten. Für dieselben wurde die tägliche Arbeitszeit auf 12 Stunden festgesetzt und Nachtarbeit verboten; jeder Lehrling sollte täglich in den ersten vier Jahren seiner Lehrzeit Unterricht erhalten, und die Schulstunden sollten ihm als Arbeitszeit angerechnet werden. Bei den ungenügenden Durchführungsbestimmungen blieb indes der Schutz, welchen diese Akte gewähren sollte, illusorisch. Inzischen ^[richtig: Inzwischen] entstanden viele mit Dampf betriebene Fabriken; in ihnen wurden auch andre Kinder und jugendliche Personen in großer Zahl und übermäßig beschäftigt. Nachdem auf Veranlassung R. Peels 1815 eine parlamentarische Enquete (die erste über die Zustände der Fabrikbevölkerung) veranstaltet worden war, kam 1819 ein neues Gesetz zu stande, das sich nur auf die Baumwollspinnereien bezog. Zum erstenmal ward eine bestimmte Altersgrenze (9 Jahre) für die Aufnahme in die Fabrik festgesetzt; die Arbeit der 9-16jährigen Kinder ward auf 12 Stunden täglich beschränkt und die Nachtarbeit von neuem verboten. Ein andres Gesetz von 1825 kürzte zum erstenmal die Arbeit am Sonnabend ab und regelte namentlich das Verfahren gegen die Gesetzesübertreter. Aber auch die Durchführung dieser Gesetze blieb eine völlig ungenügende. Einer energischen Agitation gelang es, 1831 ein neues Gesetz durchzubringen, welches die vorausgegangenen Gesetze aufhob, die Nachtarbeit für alle Personen zwischen 9 und 21 Jahren verbot und die Arbeitsdauer für Personen bis 18 Jahren auf 12 Stunden pro Tag und 9 St. Sonnabends festsetzte. Obgleich in ihrer Wirksamkeit auf die Baumwollindustrie beschränkt, war diese Fabrikakte doch insofern von hoher Bedeutung, als sie das erste Gesetz war, welches wenigstens zum Teil ausgeführt wurde. Das Hauptziel der weitern Agitation war die Beschränkung der Arbeitszeit auf 10 St. und die Ausdehnung der F. auf die gesamte Textilindustrie.

[Zweite Periode.] 1832-33 wurde eine umfassende Enquete über die Lage der Fabrikarbeiter veranstaltet. In dem Kommissionsbericht ward die allgemeine Herabsetzung der Arbeitszeit auf 10 Stunden als verderblich und als gefährlicher Eingriff in die Rechte des freien erwachsenen Arbeiters verworfen und vorgeschlagen, die Arbeitszeit der Kinder von 9 bis 13 Jahren auf 8 St. herabzusetzen; um aber die notwendigen Hilfsarbeiter während des ganzen Arbeitstags zu erhalten, ward das sogen. Relaissystem empfohlen, d. h. die Einstellung doppelter Arbeitsreihen, von denen die eine von morgens bis mittags, die andre von da ab bis abends arbeitet. Die meisten Vorschläge der Kommission fanden Berücksichtigung in dem neuen Gesetz vom 29. August 1833, welches in allen Baumwoll-, Schafwoll-, Kammwoll-, Hanf-, Flachs-, Leinspinnereien und -Webereien den Personen unter 18 Jahren die Nachtarbeit untersagte und zum erstenmal zwischen Kindern von 9-13 Jahren und sogen. jungen Personen von 13-18 Jahren unterschied, indem es für erstere das Arbeitsmaximum auf 48 Stunden, für letztere auf 69 Stunden pro Woche festsetzte. Zur Durchführung des Gesetzes wurden vier Fabrikinspektoren bestellt. 1842 folgte das Bergwerksgesetz vom 10. August mit dem Verbot der Arbeit unter Tag für Frauen und für