Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

561

Frankreich (Geschichte: Karl X.).

Regierung zu ermöglichen. Jedoch die Ermordung des Sohns Karls von Artois, des Herzogs von Berri, durch den fanatischen Republikaner Louvel (13. Febr. 1820), welche der Schwäche des Ministeriums schuld gegeben wurde, brachte die royalistischen Ultras zur Herrschaft. Decazes mußte seine Entlassung nehmen und wurde durch Richelieu ersetzt. Nun wurde die individuelle Freiheit von neuem beschränkt, die Zensur mit aller Strenge gehandhabt; durch ein neues Wahlgesetz vom 29. Juni 1820 erhielten die großen Grundbesitzer einen überwiegenden Einfluß auf die Wahlen. Diese fielen nun im Herbst 1820 und 1821 so sehr im Sinn der Ultras aus, daß selbst das zweite Ministerium Richelieu ihnen nicht mehr genügte und einer ultraroyalistischen und ultramontanen Regierung Platz machen mußte, an deren Spitze als Finanzminister Villèle und als Minister des Innern Corbière standen (Dezember 1821). Nun wurde das Beamtentum von allen freisinnigen Elementen gereinigt, der gesamte Unterricht dem Klerus unterworfen. Ein Präventivpreßgesetz erstickte jedes freie Wort. Während die Ultramontanen mit demagogischen Mitteln das niedere Volk aufhetzten, bildeten sich im Heer und in der bürgerlichen und Arbeiterbevölkerung geheime Verschwörungen. Der Fanatismus der Royalisten ging so weit, daß der Deputierte Manuel, der am 26. Febr. 1823 auf die Hinrichtung Ludwigs XVI. angespielt hatte, unterbrochen und mit Gewalt aus der Kammer ausgestoßen wurde, worauf alle liberalen Mitglieder der Kammer, 62 an der Zahl, dieselbe verließen. Gegen ihren Willen mußte die Regierung unter dem Druck des Auslandes und der legitimistischen Partei zum Schutz des Königtums gegen die liberale Regierung in Spanien intervenieren. Am 7. April 1823 überschritt die französische Armee unter dem Befehl des Herzogs von Angoulême die spanische Grenze. Mit leichter Mühe gelang ihr die Unterwerfung fast ganz Spaniens und die Wiederherstellung des blutgierigen Despotismus Ferdinands VII. (September 1823). Nachdem die Kammer Ende 1823 aufgelöst und bei den Neuwahlen fast alle liberalen Elemente verdrängt worden waren, setzte Villèle im Juni 1827 die siebenjährige Dauer der Deputiertenkammer durch. Nun erlangte der unersättliche Klerus neue Zugeständnisse: die Sonntagsfeier wurde durch strenge Strafen eingeschärft, die Zensur wieder eingeführt, ein Ministerium der geistlichen Angelegenheiten errichtet, mehrere Bischöfe in den Staatsrat eingeführt, andre zu Pairs ernannt. Unter dem Eindruck dieser Maßregeln starb Ludwig XVIII. 16. Sept. 1824 nach neunjähriger Regierung, die dem Land zwar keine Versöhnung der Parteien, aber doch leidliche Ruhe und damit einen großartigen Aufschwung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, der Künste und Wissenschaften, der Journalistik und der öffentlichen Beredsamkeit gebracht hatte.

Sein Nachfolger Karl X., Graf von Artois (1824 bis 1830), kam zwar anfangs der öffentlichen Meinung mit einer Amnestie und der Aufhebung der Zensur entgegen; aber er war selbst reaktionär gesinnt und stand ganz unter der Herrschaft der jesuitischen Kamarilla, die unter ihm das klerikal-feudale System zu verwirklichen gedachte. Schon im Dezember wurden daher den Kammern ein Sakrileggesetz, welches die Entweihung der Kirchengeräte mit dem Tod bedrohte, und ein Gesetz über die Entschädigung der Emigranten durch Zahlung einer Milliarde vorgelegt. Der neue König ließ sich 29. Mai 1825 in Reims krönen und mit dem heiligen Öl salben und erneuerte dabei das ganze mittelalterliche Zeremoniell. Sogar die Majorate sollten durch ein Gesetz wiederhergestellt werden, welches aber die Kammern verwarfen. Ganz Paris illuminierte zur Feier dieser moralischen Niederlage der Regierung. Die Armee war nicht minder erbittert über den wachsenden Einfluß des Klerus und das gesetzwidrige Eindringen der Jesuiten in die leitenden Kreise Frankreichs; zahlreiche verdiente Offiziere nahmen ihre Entlassung. Karls X. und Villèles Eigensinn führte sie aber immer weiter auf der verhängnisvollen Bahn. 1827 brachten sie ein neues Gesetz gegen die Presse und die Druckschriften überhaupt ein, welches an Strenge alles Bisherige übertraf. Als die französische Akademie sich im Namen der Litteratur u. Wissenschaft gegen dieses Gesetz erklärte, wurden ihre hervorragendsten Mitglieder bestraft.

Unter diesen Umständen war es eine neue herbe Niederlage für das Ministerium, ja für den König selbst, daß die Pairskammer das Preßgesetz so amendierte, daß die Regierung sich veranlaßt fand, es zurückzuziehen. Als die Pariser Nationalgarde bei einer Revue Kundgebungen für die Charte und gegen die Minister und Jesuiten machte, wurde sie vom König aufgelöst. Um ganz gefügige Kammern zu erhalten, nahm Karl X. einen abermaligen umfassenden Pairsschub vor und berief eine neue Abgeordnetenkammer ein (November 1827). Allein dieser Versuch hatte nicht den gewünschten Erfolg, denn die Wahlen fielen infolge der energischen Thätigkeit des Vereins "Aide-toi, le ciel t'aidera" zu gunsten der Liberalen aus, und von 428 Deputierten waren nur 125 ministeriell; die Doktrinäre unter Royer-Collard und die Liberalen (Indépendants) hatten die Majorität. Am 4. Jan. 1828 nahm das Ministerium Villèle seine Entlassung, und der gemäßigte Royalist Martignac übernahm die Leitung der Regierung. Er hatte jedoch zwischen der zwar in zahlreichen Fraktionen gespaltenen, aber überwiegend freisinnigen Kammer und dem klerikal-absolutistischen Monarchen eine schwierige Stellung, und seine Haltung war daher oft eine unklare und schwankende. Durch gegenseitige Mäßigung wurde jedoch eine Verständigung zwischen dem Ministerium und den Kammern ermöglicht und der König zu mehreren die Geistlichkeit und Jesuiten beschränkenden Ordonnanzen und zur Genehmigung einiger liberaler Gesetze veranlaßt. Martignac wünschte namentlich durch Dezentralisation der Administration und durch Selbstverwaltung der Gemeinden und Kantone eine gedeihliche innere Entwickelung herbeizuführen. Doch stieß das Gesetz unbegreiflicherweise in der Kammer auf Widerstand, und dies gab dem König den Mut, Martignac, sobald die Kammern das Budget bewilligt hatten und die Session geschlossen war, zu entlassen und 8. Aug. 1829 ein Ministerium der äußersten Reaktion zu berufen, an dessen Spitze der Prinz Jules de Polignac als Minister des Auswärtigen trat. Alle Parteien ohne Ausnahme sahen ein, daß dieses Ministerium den entschlossenen Kampf gegen jede konstitutionelle Freiheit bedeute.

Um die öffentliche Meinung abzulenken, suchte Polignac in der äußern Politik Erfolge zu erringen, welche der Eitelkeit des Volkes schmeichelten. Er trat mit Rußland, dem sich F. während der orientalischen Krisis genähert und durch seinen Anteil an der Vernichtung der türkischen Flotte bei Navarino (20. Okt. 1827) und die Besetzung Moreas Dienste geleistet hatte, in Unterhandlungen über ein Bündnis, in dem F. das linke Rheinufer versprochen wurde. Als der französische Konsul Deval vom Dei von Algier beleidigt wurde, beschloß die Regierung, eine Expedition von 40,000 Mann zur Eroberung Algiers