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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Frankreich

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Frankreich (Geschichte: Ludwig Philipp).

skandalöse Vorfälle offenkundig. Auch der König verscherzte die öffentliche Achtung durch seine Habgier und die Beflissenheit, mit der er die Interessen seiner Familie wahrnahm; seine bürgerliche Einfachheit galt für Geiz, und man beschuldigte ihn offen gewinnsüchtiger Geldspekulationen. Die 1836 beantragte Rentenkonversion, welche die Staatsfinanzen erheblich entlastet hätte, wurde vom König und den hohen Finanzmännern aus Eigennutz hintertrieben. Aber auf ihre legale Gewalt trotzend, nahm die Regierung auf kein Symptom der Unzufriedenheit Rücksicht. Den immer erneuten Attentaten und Aufstandsversuchen der republikanischen Partei gegenüber beschränkte die Kammer im März 1834 die Vereinsfreiheit bedeutend. Darauf brachen Mitte April zuerst in Lyon, dann in Paris, St.-Etienne und an vielen andern Orten umfassende Arbeiteraufstände von sozialistischer Färbung aus, welche nur mit großer Mühe unterdrückt werden konnten. Die Aufregung, welche der Monstreprozeß gegen die 2600 Angeklagten dieser Aufstände vor der Pairskammer sowie das neue Attentat Fieschis (28. Juli 1835) erregten, benutzte das Ministerium, um in den bekannten Septembergesetzen eine Beschränkung der Preßfreiheit und der Geschwornengerichte herbeizuführen.

Nun ließ der König Thiers, der ihm besonders in der auswärtigen Politik durch sein Drängen zur Intervention gegen die Karlisten in Spanien unbequem wurde, fallen und berief 6. Sept. 1836 den streng konservativen, aber äußerst gewandten Molé an die Spitze des Ministeriums, das sonst aus doktrinär-konservativen Männern, wie Guizot, Duchâtel etc., zusammengesetzt war. Damals machte Prinz Ludwig Napoleon den verunglückten Versuch, das Militär in Straßburg zu einem bonapartistischen Aufstand zu bewegen. Die Kammer war indes keineswegs geneigt, dem Ministerium auf seinen reaktionären Bahnen zu folgen, und sowohl die dynastische Opposition unter Odilon Barrot als Thiers und seine Freunde legten dem Ministerium immer mehr Hindernisse in den Weg. Dennoch behauptete sich dasselbe infolge der Eifersucht der ehrgeizigen Parteiführer und befriedigte auch die Eitelkeit der Nation durch kriegerische Erfolge in Algerien, die Anerkennung der Unabhängigkeit Belgiens auf der Londoner Konferenz und die Erzwingung reichlicher Entschädigung für das verletzte Eigentum französischer Staatsangehörigen in Haïti, Mexiko und Buenos Ayres. Als jedoch bei der Adreßdebatte in den zwei Kammern im Januar 1839 Molé nur eine geringe Majorität erhielt, schritt er zur Auflösung und reichte, da die Opposition sich bei den Neuwahlen verstärkte, seine Entlassung ein. Mehrere Monate kam kein neues Kabinett zu stande; endlich veranlaßte ein sozialistischer Aufstand in Paris (Mai 1839) die Bildung eines Koalitionsministeriums, an dessen Spitze der Marschall Soult stand. Auch dieses Kabinett konnte sich der entschieden liberalen Kammermehrheit gegenüber nicht halten; Thiers benutzte die schwankende Haltung desselben in der orientalischen Frage, um es heftig anzugreifen, und als es mit einem Vorschlag zur Dotierung des Herzogs von Nemours durchfiel, nahm es im Januar 1840 seine Entlassung.

Gegen die Neigung des Königs wurde nun Thiers Minister des Auswärtigen und Konseilpräsident. Thiers veranstaltete, seinen chauvinistischen Neigungen entsprechend, die Rückführung der Überreste Napoleons I. von St. Helena nach Paris und suchte in Europa selbst eine kräftige Politik von französischem Standpunkt aus durchzuführen, welche auch die Billigung des französischen Volkes erhielt. Während im Innern ein neuer Aufstandsversuch Ludwig Napoleons in Boulogne mit leichter Mühe unterdrückt wurde, wollte Thiers den gegen die Pforte aufständischen Pascha Mehemed Ali von Ägypten thätlich unterstützen. Als deshalb F. von dem Londoner Quadrupelvertrag vom 15. Juli 1840 zwischen Österreich, Preußen, Rußland und England, durch welchen das Schicksal Mehemed Alis entschieden wurde, ausgeschlossen blieb, wollte Thiers es auf einen Krieg ankommen lassen, mit dem er besonders Deutschland bedrohte. Indes im entscheidenden Augenblick ließ ihn Ludwig Philipp, der weder sein kriegerisches Auftreten nach außen noch sein liberales nach innen billigte, im Stiche, indem er sich weigerte, von der Kammer Bewilligungen zu ernstlichen Kriegsrüstungen zu verlangen. Dieser Umstand veranlaßte das Ministerium Thiers, 21. Okt. 1840 abzudanken, worauf wiederum Soult mit der Bildung eines dem König unbedingt ergebenen Kabinetts beauftragt wurde, in welchem Guizot, der Minister des Auswärtigen, den herrschenden Einfluß besaß.

Guizot, der 1846 auch nominell die Leitung des Ministeriums übernahm, fügte sich ganz den Wünschen des ängstlichen und egoistischen Königs. In der orientalischen Frage gab F. seine kriegerische Politik auf und schloß sich, nachdem die Selbständigkeit seines Schützlings Ägypten mit gewissen Einschränkungen gerettet worden, den übrigen Mächten an. Um von den legitimen Dynastien als Ebenbürtiger anerkannt zu werden, verfolgte Ludwig Philipp in Italien und im Schweizer Sonderbundskrieg eine ganz reaktionäre Politik, ohne von Österreich und Rußland den gewünschten Dank zu erhalten. Durch sein unredliches Verhalten gegen England in der Sache der spanischen Heiraten, durch welche er der Familie Orléans den spanischen Thron sichern wollte, verlor er die Sympathien der einzigen auswärtigen Macht, die der Julimonarchie stets Wohlwollen bewiesen hatte. Seine Dynastie endlich erlitt durch den tragischen Tod ihres populärsten Prinzen, des Thronfolgers Herzog von Orléans (13. Juli 1842), einen unwiederbringlichen Verlust. Im Innern verlor das System immer mehr an Achtung. Die Agitation für die Erweiterung des Wahlrechts nahm von Jahr zu Jahr größere Dimensionen an und verbreitete sich über alle Schichten des Volkes. Nur die Kammern setzten ihr einen verblendeten Widerstand entgegen. Die wachsende Erregung machte sich in immer wiederholten Attentaten und Verschwörungen Luft. Während Arbeitseinstellungen und Mißwachs Not und Elend verbreiteten, während das Budget trotz des Friedens ein Defizit von mehr als 70 Millionen zeigte, enthüllten der Monstreprozeß Teste-Cubières, die Ermordung der Herzogin von Praslin und die unwiderlegten Anklagen Emile de Girardins gegen die Regierung die ungeheure und allgemeine Korruption der letztern und der hohen Finanzwelt in ungeahnter Weise. Die Kammern aber fanden kein Wort des Tadels oder des Urteils über diese Zustände. Der allgemeine Unwille gegen dieses Treiben einer privilegierten Kaste, des Geldadels, machte die gefährliche Koalition der republikanischen und der dynastischen Opposition um so enger und den Ruf nach einer Reform des Wahlrechts um so dringender.

Die Februarrevolution und die zweite Republik.

Zur Belebung der Agitation für diese Zwecke griff man zu einem schon 1840 beliebten Mittel, der Abhaltung öffentlicher Bankette oppositioneller Färbung in allen größern Städten. Das erste fand im Château Rouge in Paris 9. Juli 1847 statt und war von mehr