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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (10.-13. Jahrhundert).

teinischen und germanischen Lingua romana genannt wurde, immer mehr an Boden und erschien schon hier und da mit einzelnen Worten und Phrasen in lateinischen Texten; ihren endlichen Sieg konnte der letzte Versuch Karls d. Gr., der dahinsiechenden deutschen und lateinischen Sprache neues Leben einzuflößen, nur verzögern, nicht mehr verhindern. Auch das neue germanische Element der Normannen, welche 911 in Frankreich seßhaft wurden, vermochte hieran nichts zu ändern. Zwar brachten sie einen reichen Schatz von Sagen und die Vorliebe für Erzählungen kühner Fahrten und ritterlicher Thaten in ihre neue Heimat mit, aber ihre Sprache wahrten sie kaum länger als ein Menschenalter, wenn auch zugestanden werden muß, daß ihr Einfluß den vorhandenen Gegensatz zwischen dem Süden und Norden Frankreichs in Sprache und Sitte, Dichten und Trachten noch mehr verschärft hat.

Vom 10. bis 13. Jahrhundert.

Schon lange vor der Zeit, wo man anfing, die romanische Sprache zu schriftlichen Aufzeichnungen zu verwenden, war dieser Unterschied zwischen dem Süden und Norden Frankreichs entstanden, hauptsächlich begünstigt durch die politische Zerrissenheit des Landes. Dort, wo man die Langue d'oc sprach, wo man in engster Beziehung zu dem sprachverwandten Italien und Spanien stand und mit den Mauren und deren feiner geselliger und künstlerischer Bildung in häufige Berührung kam, wo unter wärmerer Sonne das Blut schneller und feuriger durch die Adern rollte, hatten sich eine heitere Sinnlichkeit, eine kecke Lebensanschauung herausgebildet, während im Norden, wo das an rauhern Himmel und rauhere Sitten gewöhnte germanische Element das herrschende war, heldenhafte Tapferkeit, kühne Abenteuersucht und Mannestreue bis in den Tod für die Ideale der Ritterlichkeit galten, die Lebensanschauung ernst, fast schwermütig war und die einzige sanfte Regung sich in der Liebe zum Gesang äußerte. Während im Süden an den glänzenden Höfen reicher und kunstsinniger Herren sich eine lebenslustige Ritterschaft drängte und die Troubadoure für ihre feinen, formvollendeten Lieder Dank und Ehre von schöner Hand davontrugen (s. Provençalische Sprache und Litteratur), erbaute sich der nüchterne Norden an den gereimten Erzählungen kühner Waffenthaten und wunderbarer Abenteuer, in denen die Geister- und Feenwelt eine große Rolle spielte. Den Stoff dazu fand man in alten Liedern, die von Mund zu Mund gegangen waren, und in den epischen Gedichten in lateinischer Zunge, die meist jüngere Ereignisse in einer kunstgerechten Form behandelten. Auch in den romanischen Dialekten ist gedichtet worden; ja, an den vielsprachigen Höfen der Merowinger fanden sich sogar bretonische Barden ein, welche ihre keltischen Lieder, meist wohl in Übersetzungen, mit Harfenbegleitung vortrugen. Hier vollzog sich auch ein reger Austausch poetischen Eigentums, und als nach der Teilung des fränkischen Reichs die deutsche und lateinische Sprache von den nordfranzösischen Höfen verschwanden, war es die romanische Sprache, als die verbreitetste, und ihre Interpreten, die Jongleure, Spielleute und Lustigmacher, welche die Umwechselung aller anderssprachigen Gedichte in die gangbarste Münze übernahmen. Zugleich bot die glänzende Epoche Karls d. Gr. und der Unabhängigkeitskampf wilder und trotziger Barone unter der schwachen Regierung seiner Nachfolger, womit sich die Volkspoesie schon lange beschäftigt hatte, den Dichtern und Erfindern von Gesängen, den Trouvères, eine unversiegbare Quelle herrlichsten Stoffes. Begleitet von den Weisen der Jongleure, trugen sie ihre Lieder in rhapsodischer Form und frei aus dem Gedächtnis vor; denn noch hatte man es nicht gewagt, Gedichte in romanischer Sprache niederzuschreiben. Hiermit war im 10. Jahrh. der Umschwung des Volksliedes zum Epos vollendet, und wenn derselbe auch aus der Überlieferung nicht zu belegen ist, so kann man doch aus einigen gleichzeitigen geistlichen Liedern ersehen, zu welcher Entwickelung die erzählende Form schon gediehen war. Diese geistlichen Lieder, die ältesten Denkmäler altfranzösischer Poesie, sind aus dem 10. Jahrh.: "Cantilène de Sainte-Eulalie", "Passion du Christ", "Vie de Saint-Léger" (alle bei Koschwitz, "Les plus anciens monuments", Heilbr. 1879), und aus dem 11. Jahrh.: "Vie de Saint-Alexis" (hrsg. von G. Paris und L. Pannier, Par. 1872); sie sind in acht- oder zehnsilbigen Versen und in den ursprünglichsten Reimformen abgefaßt. Auch Prosabearbeitungen geistlicher Stoffe sind aus dieser Zeit erhalten: das Bruchstück einer Homilie über den Propheten Jonas (10. Jahrh.), eine Übersetzung der Psalmen (11. Jahrh.) und der vier Bücher der Könige (11. und 12. Jahrh.); dagegen sind die Volksgesänge, die frühste Form des französischen Epos, fast alle untergegangen. Das "Rolandslied", abgesehen von einigen Fragmenten ("Alexandre" von Alberic von Besançon, "Gormund et Isembard"), ist das einzige, welches aus diesem Zeitraum auf uns gekommen ist; alle andern sind nur in den mehr oder weniger treuen Überarbeitungen der folgenden Jahrhunderte übriggeblieben. Die "Chanson de Roland" (hrsg. von Th. Müller, 2. Aufl., Götting. 1878), gegen Ende des 11. Jahrh. gedichtet, ist außer dem ältesten zugleich das schönste Erzeugnis der epischen Poesie Frankreichs, welche ihre Glanzzeit von 1050 bis 1250 gehabt hat; nach dieser Zeit ist es den Franzosen nicht mehr gelungen, ein wahres Epos zu stande zu bringen.

Der epische Stoff dieser Periode wird in drei große Sagenkreise eingeteilt: den fränkischen, bretonischen und antiken; die Epen selbst heißen Chansons de geste (von gesta, s. v. w. Heldenthaten), obwohl dieser Name hauptsächlich im engern Sinn für die Gedichte des karolingischen Sagenkreises gebraucht wird. Dieser, dessen Hauptpersonen Karl d. Gr. und seine Paladine sowie die mächtigen Vasallen der Karolinger sind, umfaßt 80 Gedichte vom 11. bis 14. Jahrh., von denen nur die Hälfte gedruckt ist. Entstanden aus alten, zum Teil unmittelbar nach den Ereignissen gedichteten Volksliedern, die in der verschiedensten Weise überarbeitet wurden, lassen sich dieselben je nach ihrer Entstehungszeit und ihrem Stoff in einzelne Gruppen zerlegen. Die ältern atmen noch den wilden, blutigen Geist und die urwüchsige Kraft des unabhängigen Vasallentums und zeigen auch äußerlich die älteste Form: zehnsilbige Verse mit Assonanzen in ungleichen, einreimigen Strophen (laisses oder tirades monorimes). In den jüngern Gedichten macht sich der christlich-ritterliche Geist bemerklich, den die Kreuzzüge erzeugt haben, wo die Kämpfe des idealen Rittertums für den Glauben das selbstsüchtige Heroentum und den eifersüchtigen Rassen-, Stamm- und Familiengeist in den Hintergrund drängten, daher in den Epen dieser Bildung Karl und seine Paladine vorzugsweise als fromme Glaubenshelden und Märtyrer erscheinen, alle feindlichen Völker und Stämme sich in dem Hauptfeind des christlichen Glaubens, den Sarazenen, konzentrieren und die legendenartig ausgeschmückte Sage