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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (die Gegenwart).

die Durchschnittstalente sich in kleinlicher Detailmalerei verloren, Phrasen drechselten ohne Gedanken und den Inhalt dem Reim opferten. Doch gibt es unter den Mitarbeitern am "Parnasse contemporain" auch einige, welche weder der Form noch dem Tone nach dieser Richtung angehören, und deren anspruchsloser und gefühlvoller Lyrik nichts fehlt als der Schwung der Begeisterung: J. ^[Joseph] Autran (gest. 1877), Sully Prudhomme, Mad. Ackermann, Mad. Colet (Luise Revoil, gest. 1876). Eine besondere Erwähnung verdienen die frischen Chansons von G. Nadaud, die zarten Elegien und Romanzen der Frau v. Girardin (Delphine Gay, gest. 1855), die eleganten Sonette J. ^[Joséphin] Soularys, die mythologischen Allegorien A. Lefèvres und das vortreffliche Epos "Mirèio" von Fr. Mistral, dem Haupte der neuprovençalischen Dichterschule. Das romantische Drama verlor immer mehr an Interesse. Waren schon V. Hugo und A. Dumas ihres Erfolgs nicht mehr sicher, so gelang es ihren Nachahmern A. Vacquerie, P. Meurice, F. Mallefille, V. Séjour, F. Dugué, E. Plouvier noch weniger, ihr Publikum zu fesseln; das fehlende Talent sollte durch Kühnheit der Verwickelungen und Effekte ersetzt werden, und die Trivialitäten in Form und Inhalt wurden immer unausstehlicher. Nur vereinzelte Werke, wie "La conjuration d'Amboise" (1868) von Louis Bouilhet, erinnerten an die Blütezeit dieser Schule, und der rauschende Erfolg bei der Wiederaufnahme des "Hernani" vor dem Publikum der Alten und Neuen Welt (bei der Ausstellung von 1867) war einer der schönsten Triumphe des Romantizismus. Solange Rachel Felix lebte (bis 1858), bevorzugte ein Teil des gebildeten Publikums die Aufführungen der "École du bon sens"; Ponsards Tragödien, J. ^[Joseph] Autrans "Fille d'Eschyle" und Augiers "Gabrielle", welche beide den akademischen Preis davontrugen, "Mlle. de la Seiglière" von J. ^[Jules] Sandeau, "Lady Tartuffe" von Frau v. Girardin u. a. beherrschten damals das Théâtre français, welches unter der geschickten Leitung A. Houssayes große Triumphe feierte. Aber auch dieser Stücke ward man überdrüssig, als in dem jüngern A. Dumas (Sohn) ein treuer Interpret der realistischen Neigungen seiner Zeit erstand. Ihm fehlten die üppige Phantasie, die großartige Leichtigkeit des Schaffens, die seinen Vater auszeichneten; dafür war er ein Meister in der Darstellung des wirklichen Lebens. Er schilderte die Schwächen und Fehler der menschlichen Natur, die Geheimnisse des Familienlebens und studierte besonders die Schichten der Gesellschaft, wo unter der glänzenden Hülle des Lasters sich Not und Elend verbergen. Häufig erkennt man in seinen Dramen die bittere Satire und die moralisierende Tendenz, doch wird die Unmoralität meist zu nahe gestreift, und unter den ungeschickten Händen seiner Nachahmer verfallen seine immerhin ausgezeichneten Sittenstudien dem nackten Naturalismus. In allen seinen Stücken, von der "Dame aux camélias" (1852), "Demimonde" (1856) bis zur "Étrangère", "Princesse de Bagdad" (1881) und "Denise" (1885), handelt es sich um die Lösung sozialer Fragen, um die Rehabilitierung der gefallenen Frau, um Ehebruch und Ehescheidung; ja, sein "Monsieur Alphonse" bringt noch bedenklichere Sachen auf die Bühne. Je mehr sich aber die sittenlose Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs für dergleichen Stücke interessierte, um so weniger konnten sich die Dichter diesem Einfluß entziehen; alle Formen der szenischen Darstellung wurden zu Zeit- und Sittenbildern, in denen die Dekorationen und Sinnenreize die Hauptanziehungspunkte bilden, und Drama und Komödie unterscheiden sich oft nur dadurch, daß jenes einen weinerlichen, moralisierenden Ton annimmt, diese ins Derbe und Possenhafte umschlägt. Die berühmtesten Vertreter dieser realistischen Richtung sind neben A. Dumas (Sohn): Victorien Sardou, dessen "Nos intimes" (1861), "Dora" (1877), "Daniel Rochat" (1880), "Théodora" (1885) über die meisten europäischen Bühnen gingen; E. Augier, welcher der "École du bon sens" bald untreu geworden war, mit "Les lionnes pauvres" (1858) und "Les Fourchambault" (1878); Th. Barrière mit "Les filles de marbre" (1853), "Les faux bonshommes" (1856) u. a. Feiner und unanstößiger sind die besonders bei der Frauenwelt gut angeschriebenen Lustspiele und Vaudevilles von O. Feuillet, die lebendigen Schilderungen E. Paillerons ("Les faux ménages", 1868), das natürliche und poetische Charakterbild "Jean-Marie" (1871) von A. Theuriet, einzelne Stücke von G. Sand, von P. Meurice, J. ^[Jules] Sandeau u. a. Bei den Talenten zweiten und dritten Ranges, wie Labiche, Dennery, J. ^[Jules] Barbier, Gondinet, Meilhac, A. Thouroude, A. Bouvier, H. Berque, werden die Verwickelungen immer unwahrscheinlicher, die Situationen immer gewagter, die Erfindung immer exzentrischer; aber auch hier findet sich unter der Spreu hin und wieder eine gute Komödie. Manche von diesen Autoren versuchten sich mit Glück in Melodramen (z. B. Dennery: "Les deux orphelines", 1875), Feerien, komischen Opern etc., und wenn so thätige und geschickte Textfirmen wie Michel Carré und J. ^[Jules] Barbier oder Meilhac und Halévy so geniale und populäre Komponisten fanden wie J. ^[Jacques] Offenbach und Ch. Lecocq, dann hatten sie beispiellose Erfolge zu verzeichnen. Für diese Art von Produktion hatten der Krieg von 1870 und die wüsten Szenen der Kommune kaum die Bedeutung einer Unterbrechung; dagegen scheint das Unglück des Vaterlandes für einen gewissen Teil der dramatischen Poesie nicht ohne läuternde Wirkung geblieben zu sein. Wiederum wandte man sich, um der materialistischen Zeitströmung und dem unpoetischen Geist entgegenzutreten, zu dem Urquell aller wahren Poesie, zu den Griechen, zurück; man knüpfte an die Zeiten der Rachel, an den "Oedipe roi" von J. ^[Jules] Lacroix (1858) an, man übersetzte Sophokles und Äschylos (besonders Leconte de Lisle) und versuchte sich wieder in der Nachahmung Corneilles und Racines. Da sind vor allem Borniers "Fille de Roland" (1875) zu nennen und J. ^[Jules] Barbiers "Jeanne d'Arc" (1873), welche mit ungewöhnlicher Begeisterung aufgenommen wurden; aber auch andre junge Dichter, wie Ballande, Deroulède, Ch. Lomon, Du Clésieux, E. Delpit, Parodi u. a., bemühen sich nicht ohne Erfolg, Einfachheit und schlichte Reinheit auf die Bühne zurückzuführen.

Der Roman mußte ebenfalls der realistischen Zeitströmung folgen. Man wollte den Romantikern nicht mehr in das Reich der Erfindung, in fremde Länder und vergangene Zeiten folgen; der Roman sollte das wirkliche Leben illustrieren und seinen Schauplatz in Paris suchen. Während der ältere Dumas in seiner phantastischen und flachen, aber drastischen und pikanten Manier noch alljährlich 50-60 Bände auf den Büchermarkt warf und die märchenhaften, oft wüsten Erfindungen seiner Nachtreter sowie die grellen Kulturgemälde E. Sues einen starken Absatz fanden, knüpfte die realistische Richtung an Balzac und Beyle an. Auch hier steht der jüngere Dumas mit an der Spitze. Treue Schilderung des wirklichen Lebens, scharfe Beobachtung des menschlichen Herzens bis in seine geheimsten