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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gebet

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Gebet.

Gebet (von beten, d. h. ursprünglich bitten), eigentlich Bitte, womit man sich an göttliche Wesen wendet; dann im weitern Sinn jede Anrufung höherer Mächte; im weitesten Sinn überhaupt Erhebung des Herzens zu Gott, Sammlung und Konzentration der Gedankenwelt in der Richtung auf das Göttliche, daher s. v. w. Andacht (s. d.). Das G. ist sonach die erste, natürlichste Äußerung der subjektiven Religion und gestaltet sich im einzelnen Fall teils zur Bitte um göttliche Hilfe, teils zum Dank für Erfahrung derselben (Lobgebet), teils, da jede Religion zugleich ein Ausdruck eines Gemeinschaftsbewußtseins ist, zur Fürbitte (s. d.). In allen drei Formen setzt das G. voraus, daß sich der menschliche Geist dem göttlichen als ein Ich dem Du gegenübergestellt finde. Während man aber neuerdings fast durchgängig die Wirksamkeit des Gebets darin sucht, daß in der Berührung mit Gott und der Vergegenwärtigung einer übersinnlichen Welt der Betende sich über die weltlichen Dinge erhoben, ins Gleichgewicht gebracht, von den Bestrebungen des Alltäglichen und Gemeinen gereinigt, nach der gottverwandten Seite seines innern Lebens hin gekräftigt fühlt, waren die Ansichten über das G. in einem frühern Stadium des geistlichen Lebens anders beschaffen, sofern im G. vielmehr ein Handeln auf Gott, ein Bestimmtwerden Gottes bezweckt wurde, daher dasselbe auch im ganzen Altertum bei den verschiedenartigsten Vorgängen im Staat und in der Familie eine viel ausgedehntere Rolle spielte. Selbst noch in den Blütezeiten der griechischen und römischen Staatenbildung wurde wenigstens bei allen wichtigern Veranlassungen das G. für unerläßliche Pflicht gehalten, deren Versäumnis den Zorn des vernachlässigten Gottes nach sich zog. In zahlreichen Fällen waren die Gebete von Opfern begleitet, um die Götter geneigter zu machen, die Wünsche und Bitten der Menschen zu erfüllen. Viele Gebete waren daher in bestimmte Formeln gefaßt, wie die um Schutz für die Feldfrüchte, bei Geburten und Hochzeiten und namentlich die bei öffentlichen Feierlichkeiten von den Magistraten oder Priestern gesprochenen, bei welchen das Versprechen oder Stocken immer für ein übles Anzeichen gehalten wurde, wie man überhaupt durchweg von der Voraussetzung einer dem G. innewohnenden Zauberkraft ausging. Selbst die äußern Gebräuche beim G. waren bedeutungsvoll. Man pflegte zuvor seine Hände zu waschen, denn mit unreinen oder gar mit blutigen Händen zu den Göttern zu flehen, war Frevel. Während aber der Grieche mit unbedecktem Haupt zur Gottheit aufschaute, verhüllte der Römer sein Angesicht beim G. Vgl. E. v. Lasaulx, Über die Gebete der Griechen und Römer (Würzb. 1842).

Seinen ständigen Ort hat das G. im Kultus (s. d.). Im Alten Testament werden bestimmte, an Zeit und Ort gebundene Gebetsformeln, außer 5. Mos. 26, 5-10 bei der Darstellung der Erstlinge, nicht gefunden. Erst als im nachexilischen Judentum strenge Gesetzlichkeit die ganze Außenseite der Religion zu beherrschen begann, führte man auch bestimmte Gebetsformeln und Gebetszeiten ein, und seitdem sank das G. gleich dem Fasten (s. d.) zur vorschriftsmäßigen Verrichtung, zum verdienstlichen Werk herab und wurde sogar Gegenstand raffinierter Kasuistik. Schon vor Jesu Zeiten finden wir das dreimalige G., um die dritte, sechste und neunte Tagesstunde, die langen Gebetsformeln und den Gebrauch der sogen. Denkzettel und Gebetriemen beim G. Die vom Talmud vorgeschriebenen und von orthodoxen Juden auch heute noch beobachtete Gebetsordnung ist auf dem Weg des Gebetsmechanismus noch erheblich weiter gegangen, erkennt übrigens nur die Gebete in hebräischer Sprache als heilkräftig an. Auch darin verleugnet der orthodoxe Jude noch heutigestags seine orientalische Herkunft nicht, daß er mit bedecktem Haupt betet, denn der Hut ist sein Turban auch unter dem abendländischen Himmel, und daß er, wenn thunlich, im Freien zu beten pflegt, ohne aber die Sonne selbst anzusehen, um sich nicht den Sonnenanbetern gleichzustellen. - Das G. der Christen war von alters her ausschließlich an Gott gerichtet (s. Vaterunser) und darum eigentlich allemal ein Bekenntnis zu dem einigen Gott und Vater. Es hatte daher wie zuvor im Synagogengottesdienst, so auch in den christlichen Versammlungen seine geregelte und unabkömmliche Stellung. Gebete an Märtyrer, Heilige, Engel sowie an die Jungfrau Maria kommen vor dem 4. Jahrh. nicht vor, wohl aber in dem Maß, als eine höhere Christologie (s. d.) Platz griff, an Christus. Die Sitte, stehend zu beten, kam von dem Judentum ins Christentum herein (Mark. 11, 25); nur den Büßenden war das Stehen beim G. ausdrücklich untersagt. Das Kniebeugen (genuflexio) ist gleichfalls dem jüdischen Kult entlehnt. Auch das altertümliche Aufheben der Hände (manuum sublatio) findet sich 1. Tim. 2, 8 und auf den Katakombenbildern. Das später aufgekommene Falten der Hände (conjunctio sive complicatio manuum et digitorum) erklärte Papst Nikolaus I. für ein Zeichen, daß sich die Christen als Knechte und Gebundene des Herrn erkennen sollten. Was die Entblößung und Bedeckung des Hauptes bei dem G. betrifft, so hielt sich die alte Kirche streng an die apostolische Vorschrift 1. Kor. 11, 4 ff. Dieser zufolge beteten die Männer mit entblößtem, die Weiber mit bedecktem Haupt. Auch der Gebrauch, das Gesicht nach Morgen zu richten, kam schon früh auf. Trotz Matth. 6, 6 ward das Hersagen, sogar das oft wiederholte, von Gebetsformeln als verdienstliches Werk allmählich zur weitverbreiteten, von der Kirche beförderten Praxis. Dagegen ist im protestantischen Gottesdienst das öffentliche G. auf einen engern Raum reduziert worden, indem es mit dem Gemeindegesang abwechselte und seine Stelle vorzugsweise nach der Predigt fand (s. Liturgie). Dabei legt Luther hohen Wert auf das liturgisch fixierte Gemeindegebet, während Zwingli in dieser Beziehung eine gewisse Freiheit beansprucht. Beide Reformatoren vertreten aber auch bezüglich der Beurteilung des Gebets überhaupt zwei in der religiösen Welt sich gegenseitig bedingende Pole. Für Luther bewegt sich das ganze religiöse Leben in scharf geschiedenen Akten und Gegensätzen; das Heil des Ganzen und des Einzelnen hat seine Geschichte, seine dramatischen Momente, und das G. ist eine mächtig darin eingreifende Handlung, während für Zwingli das religiöse Leben mehr als ein ruhiger Verlauf und das G. als eine Erscheinung des sich immer gleichbleibenden Grundes desselben in Betracht kommt. - Auch der Islam weist seine Bekenner auf ausschließliche und häufige Anrufung des einigen wahren Gottes hin, und Mohammed hat selbst alle Waschungen, Gebärden, Kniebeugungen und sonstigen beim G. zu beobachtenden Zeremonien genau geregelt. Die fünf Gebetsstunden werden durch dazu bestimmte Ausrufer (Muezzins) von den Minarets der Moscheen herab den Gläubigen angezeigt. Obwohl aber das G. im Islam für besonders verdienstlich gilt, so gehört es doch fast ganz der Privaterbauung an, nicht dem öffentlichen Kultus, ist auch mehr Preis- und Dank- als Bittgebet. Während der Verrichtung des