Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

544

Goethe (1764-1768).

sephs II. zum römischen König wurde die Entdeckung gemacht, daß einige der Teilnehmer jener fröhlichen Gelage sich bedenklicher Vergehen, ja Verbrechen schuldig gemacht. G., der eben zugleich im großen Eindruck einer bunt bewegten Welt, wie ihn die Vaterstadt in den Krönungstagen bot, und im Glück seiner knabenhaften Leidenschaft geschwelgt hatte, sah sich in eine Privatuntersuchung verwickelt, die zwar ehrenvoll und glücklich genug für ihn endete, ihm aber doch den ersten Bruch mit seiner arglos vertrauenden Naturanlage zurückließ. Über seinen Liebeskummer half ihm das Gefühl verletzten Stolzes rasch hinweg, da das hübsche Gretchen in der vorerwähnten Untersuchung geäußert hatte, sie habe in G. nur ein Kind gesehen.

Leipzig. Straßburg.

G. nahm nach dieser frühen Katastrophe seines Lebens die Studien, welche ihn zur Universität führen sollten, um so eifriger wieder auf, als ihm Frankfurt momentan verleidet war. Goethes Vater, welcher seinen Entschluß, als Privatmann "zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben hinzubringen", konsequent durchführte, empfand gleichwohl zuzeiten die volle Schwere dieses Entschlusses und war entschlossen, den ganzen Einfluß seiner Verbindungen und seines Wohlstandes aufzubieten, um den Sohn, dessen glänzende Begabung er von früh auf erkannte, einer glücklichern Existenz entgegenzuführen. In dem zu diesem Endzweck entworfenen Lebensplan stand das Studium der Rechte unerschütterlich fest; auf Goethes Regung und Neigung, sich dem Studium der neu aufstrebenden Altertumswissenschaften zu widmen, ward keine Rücksicht genommen, bei der Wahl einer Hochschule Göttingen, für welches Wolfgang eine gewisse Vorliebe verriet, ausgeschlossen und für Leipzig entschieden. Sechzehnjährig bezog G. im Oktober 1765 die dortige Universität. Sein Quartier nahm er im Haus zur "Feuerkugel" am Neumarkt. Der erste Eindruck des "kleinen Paris" war ein günstiger; die neue Unabhängigkeit und die frohesten Zukunftshoffnungen ließen G. den Entschluß fassen, sich selbst hier in Leipzig vom juristischen Studium zum litterarisch-philologischen zu wenden. Daß er diesen mit seinen innersten Neigungen so sehr übereinstimmenden Entschluß auf das bloße Zureden des Hofrats Böhme, eines Juristen der alten Schule, wieder aufgab, ist besonders charakteristisch für die Nachgiebigkeit äußern Umständen und Verhältnissen gegenüber, welche G. sein Leben hindurch bewährte, und die sich mit der merkwürdigen Festigkeit, ja mit energischem Trotz in der Behauptung seines innern Lebens und dessen, was ihm persönliche Notwendigkeit dünkte, so wundersam paart. Der junge Student mochte ahnen, daß seine Entwickelung in jedem Sinn von der äußern Wahl des Studiums unabhängig sei. Im übrigen sah es mit seinen Studien bedenklich aus. Seine allgemeine Bildung war, der Dürftigkeit der damaligen Universitätsvorträge gegenüber, zu weit vorgeschritten, nur Gellert vermochte ihn in seinem Praktikum für deutsche Stilistik einige Zeit hindurch zu fesseln; gegen die schulmäßige Logik und Philosophie empfand er eine unüberwindliche Abneigung, und selbst in die Anfänge der Rechtswissenschaft hatte ihn der Vater daheim so weit eingeführt, daß ihm die juristischen Kollegien langweilig und unfruchtbar erschienen. Inzwischen ward G. auch die harmlose Freude an seinem poetischen Talent und der unausgesetzten Übung desselben in ähnlicher Weise verleidet wie sein bequemer, bildlicher Ausdrücke voller oberdeutscher Dialekt und seine solide, aber unmodische von Frankfurt mitgebrachte Garderobe. Die Leipziger gute Gesellschaft wußte ihn zwar nicht von der alleinigen Vortrefflichkeit der meißnischen Mundart zu überzeugen; aber sie bewog ihn, seine Kleidung gegen eine modische umzutauschen, und brachte ihm die empfindliche Überzeugung von der Wertlosigkeit seiner seitherigen poetischen Bestrebungen so entschieden bei, daß er "Poesie und Prosa, Pläne, Skizzen und Entwürfe sämtlich zugleich auf dem Küchenherd verbrannte". G. schaffte indessen raschen Ersatz für die verbrannten Gedichte: die Eindrücke und kleinen Erfahrungen des unbekümmerten Studentenlebens, das er führte, wurden in Liedern und kleinen Bildern fixiert. Namentlich regten ihn sein Freund und Studiengenosse (späterer Schwager) Schlosser und der wunderlich-originelle Behrisch, Hofmeister eines jungen Edelmanns, zu lyrischen Dichtungen an - letzterer, indem er auf Kürze und Bestimmtheit des Ausdrucks drang, mit wohlthätigstem Erfolg. Eine Anzahl dieser ältesten Lieder wurde von dem jüngern Breitkopf, dem musikalisch begabten Sohn des Begründers der berühmten Leipziger Buch- und Musikalienhandlung, in Musik gesetzt und 1770 (als älteste gedruckte Lieder Goethes, wenn auch ohne dessen Namen) veröffentlicht. Als Nachklang der ersten trüben Lebenserfahrungen in der Vaterstadt, der zeitigen Einsicht, welche bedenklichen Elemente unter der äußerlichen Hülle der bürgerlichen Zustände vorhanden seien, entstand die älteste (einaktige) Komödie Goethes: "Die Mitschuldigen". Auch sein Leipziger Liebesleben half das poetische Talent reifen. Durch Schlosser ward G. in das Haus und die Tischgesellschaft des aus Frankfurt stammenden Weinhändlers Schönkopf eingeführt. Hier gewann die Tochter des Hauses, Käthchen (Annette), das leicht entzündliche Herz des poetischen Studenten. Eine beglückte Jugendliebe (welcher übrigens, wie aus den neuerdings bekannt gewordenen Briefen an Behrisch hervorgeht, viel mehr Leidenschaft, Glut und Pein innewohnten, als die Darstellung in "Wahrheit und Dichtung" erraten ließ) steigerte den Übermut, mit welchem der Glückverwöhnte dahinlebte, zu der bedenklichen Neigung, die Geliebte, welche ihm ehrlich und aufrichtig ergeben war, mit eifersüchtigen Launen derart zu quälen, daß ein Bruch mit ihr eintrat, den G. dann umsonst zu heilen bemüht war. Er gewann Käthchens Herz nicht zurück und erwarb sich nur das Recht einer freundschaftlichen Beziehung wieder. Dieser zweiten Lebens- und Liebeserfahrung entstammte das kleine Schäferspiel "Die Laune des Verliebten", die einzige Arbeit, welche G. abgeschlossen von Leipzig mit hinwegnahm. Im Frühling 1767 hatte er seiner Schwester Cornelia geschrieben: "Da ich ganz ohne Stolz bin, kann ich meiner innerlichen Überzeugung glauben, die mir sagt, daß ich einige Eigenschaften besitze, die zu einem Poeten erfordert werden, und daß ich durch Fleiß einmal einer werden könne. - Man lasse doch mich gehen: habe ich Genie, so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert; habe ich keins, so helfen alle Kritiken nichts." - Das letzte Semester in Leipzig wurde G. durch Krankheit getrübt; ein heftiger Blutsturz ließ ihn tagelang zwischen Leben und Tod schwanken, er genas nur langsam und kümmerlich und verließ Ende August 1768 Leipzig noch als Halbkranker.

Sein Vater mochte von den Resultaten des Leipziger Aufenthalts wenig erbaut sein, für G. waren sie gleichwohl groß und bleibend. In Leipzig hatte er ein festeres Verhältnis zur Litteratur jener Tage gewonnen und seine kritiklose Verehrung aller erdenklichen Poeten und Poetaster mit bewußter Bewunderung Lessings, Winckelmanns, Wielands vertauscht.