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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Griechenland

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Griechenland (Alt-G.: Geschichte bis um 500 v. Chr.; die Kolonisationen).

das Volk zu unterdrücken und allen Besitz an sich zu bringen. Der entstehenden Gärung konnte Drakons Gesetzgebung (621) kein Ende machen. 612 versuchte Kylon, unterstützt von seinem Schwiegervater Theagenes von Megara, die Aristokratie zu stürzen und eine Tyrannis aufzurichten. Der Versuch scheiterte zwar, überzeugte jedoch die Eupatriden von der Notwendigkeit, durch Nachgiebigkeit den Staat aus seiner innern Zerrissenheit und äußern Ohnmacht zu erretten. Das große Verfassungswerk Solons (s. d.), das er 594 als erster Archon, mit außerordentlichen Vollmachten ausgerüstet, durchführte, sollte den Zwiespalt der Stände versöhnen und den Staat auf einen neuen, festen Rechtsboden stellen. Seine großartige Gesetzgebung umfaßte alle Zweige des Lebens und legte überall fruchtbringende Keime. Pflichten und Rechte der Bürger wurden gerecht verteilt, durch die Unterordnung des Bürgers unter den Staat nicht seine sittliche Freiheit aufgehoben.

Wenn trotzdem die neue Staatsordnung nicht dauernden Bestand hatte, wenn der Ehrgeiz der adligen Geschlechter das Gemeinwesen in neue Parteikämpfe stürzte, wenn endlich der Neleide Peisistratos an der Spitze des armen Gebirgsvolkes, der Diakrier, welche er für sich gewonnen, erst zweimal auf kurze Zeit (560-559 und 554-552), endlich 541 dauernd eine Tyrannis aufrichtete, so blieben die Grundlagen der Solonischen Verfassung doch bestehen: Peisistratos pflegte alle Einrichtungen und Gesetze derselben, soweit sie mit seiner Herrschaft vereinbar waren. Nach dem Sturz seines Sohns Hippias (510), zu dem die Spartaner unter Kleomenes Hilfe leisteten, brachen sofort wieder Zwistigkeiten zwischen den ehrgeizigen Geschlechtern aus. Indes die Partei des Isagoras, welche, von Kleomenes unterstützt, die alte Aristokratie wiederherstellen wollte, unterlag, und der Alkmäonide Kleisthenes erneuerte die Solonische Verfassung in ihren wesentlichen Einrichtungen und brach die Macht des Adels durch Auflösung der vier Phylen, die Verlosung der Ämter etc. (508). Die Einmischung Spartas ward abgewehrt, ein Rachezug des Kleomenes scheiterte an der Weigerung der peloponnesischen Bundesgenossen, gegen Athen zu kämpfen; die Thebaner, welche, erbittert über Platääs Abfall zu den Athenern, zum Krieg rüsteten, und die mit ihnen verbündeten Chalkidier wurden einzeln geschlagen, das Gebiet von Chalkis in 4000 Losen athenischen Bürgern zugeteilt (507). Der Grundstein zu einer attischen Hegemonie über Mittelgriechenland war gelegt. Überraschend schnell waren die Athener unter der Einwirkung der Solonischen Gesetze ein politisch geschultes Volk geworden und standen als Vertreter des ionischen Stammes ebenbürtig dem dorischen Sparta gegenüber, dessen Übergewicht durch Kleomenes' unüberlegte Politik einen Stoß erlitten. Wie der Seestaat Korinth auf dem Peloponnes dem stammverwandten Sparta anregend und mäßigend zur Seite stand, so in Hellas die Landbau treibende Bevölkerung von Böotien unter Thebens Führung neben Athen. Außer diesen vier Staaten war auf dem europäischen Festland ums Jahr 500 keiner von größerer Bedeutung.

Die Kolonisationen.

Gleichzeitig mit diesen politischen Bildungen erfolgten die großartigen Kolonisationen der Hellenen. Unermüdlich in ihrem Trieb, immer neue Handelswege aufzusuchen, bei allem Heimatsgefühl zur Auswanderung in die Ferne geneigt, haben die Hellenen sich vom Archipel über das ganze Mittelmeer verbreitet, an den Küsten der Mäotis, den Mündungen des Nils, in Italien, den westlichen Inseln bis nach Gallien hin Pflanzstädte gegründet, welche den Handel mit dem Mutterland vermittelten, die Produkte des fremden Landes mit den Erzeugnissen des heimischen Gewerbfleißes austauschten und durch betriebsame Ausbeutung des Landbaues bald zu eignem Wohlstand gelangten. In kürzester Zeit übertrafen die meisten Kolonien an Zahl der Bevölkerung und Reichtum ihre Mutterstädte, denn sie waren weniger durch ebenbürtige Nachbarn beschränkt. Mit der materiellen Entwickelung hielt auch meist die intellektuelle gleichen Schritt. Dabei blieben sie mit der Heimat in stetem Verkehr. Wenn sie auch eine politische Oberhoheit der Mutterstadt gewöhnlich nicht anerkannten, hielten sie doch ein Pietätsverhältnis aufrecht. Ihre griechische Nationalität bewahrten sie sich nicht nur, sondern sie breiteten auch ihre Sprache und Bildung bei den Völkerschaften aus, in deren Mitte sie sich ansiedelten. Die Übervölkerung, welche dem griechischen Gemeinwesen hätte gefährlich werden und aufreibende innere Kämpfe hervorrufen können, wurde durch diese Kolonisation nicht nur abgelenkt, sondern zur Steigerung der Macht, zur Forderung des Geisteslebens auch im Mutterland verwertet. Unter sämtlichen Stämmen zeichnen sich bei dieser Thätigkeit die Ionier und unter diesen wieder die Städte Chalkis auf Euböa und Milet aus. Auch bei den unter Führung dorischer und äolischer Geschlechter ausgesandten Ansiedelungen waren in der Regel Ionier beteiligt. Die bedeutendsten Kolonien Milets waren am Schwarzen Meer Sinope, Trapezunt, Odessos, Olbia, Pantikapäon, an der Propontis Kyzikos, im Nilland Naukratis, das, von dem für ihm geleistete Hilfe dankbaren König Psammetich hoch begünstigt, eine glänzende Blüte erlangte. Die euböischen Städte kolonisierten die makedonische Küste, Chalkis gründete hier allein 32 Pflanzstädte. Von den Ionischen Inseln aus, namentlich von Kerkyra, das sich 665 von seiner Mutterstadt Korinth losriß, wurden Ansiedelungen nach der illyrischen Küste und nach Unteritalien entsendet, welche hier schon ältere Handelsniederlassungen der Ionier und Karer aus Kleinasien vorfanden; Kyme, Zankle (Messina), Rhegion, die Ostküste Siziliens mit den Städten Katane, Naxos, Syrakus und Leontinoi verdankten der Vereinigung und dem Wetteifer verschiedener griechischer Staaten ihre Entstehung. Achäische Geschlechter von der Nordküste des Peloponnes führten ionische Kolonisten nach dem Tarentinischen Meerbusen und gründeten Sybaris und Kroton, lakonische Ansiedler Taras, Rhodier Gela an der Südküste Siziliens und dieses wieder östlicher Akragas, das an Glanz und Pracht bald die Mutterstadt überbot. Die kühnen Seeleute von Phokäa drangen bis zur Küste Galliens vor, wo Massalia Mittelpunkt ihrer Handelsplätze war, und auch in Spanien nisteten sich Griechen ein und machten den Karthagern die Herrschaft über den dortigen Handel streitig. Von Thera aus wurde Kyrene in Afrika angelegt, welches sich unter der Herrschaft der Battiaden rasch entwickelte und ein mächtiges Reich wurde, das sich gegen Ägypten siegreich behauptete.

Die schützende Gottheit aller dieser Ansiedelungen war Apollon. Sein Altar war das erste, was die Kolonisten errichteten; keine Ansiedlerschar wurde ohne seinen Befehl entsendet; sein Rat ward eingeholt, wenn eine Pflanzstadt nicht gedieh und verlegt werden sollte. Wie bei den ersten Wanderungen von Kleinasien über den Archipel nach Hellas, bezeichnete auch bei den großen Kolonisationen von 800-500 die Ausbreitung des Apollondienstes diejenige grie-^[folgende Seite]