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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1865-1867).

nahmen Ämter zweiten Ranges. Diese Veränderungen bewirkten, daß die von Palmerston nicht begünstigte Reformagitation wieder in vollen Fluß kam, indem zahlreiche Meetings zu diesem Zweck in Bradford, Birmingham, Blackburn, Halifax, Rochdale sowie in der Hauptstadt des Landes abgehalten wurden.

Eben jetzt begannen in Irland die Unruhen der Fenier (s. d.), eines revolutionären Geheimbundes, der unter den Irländern Nordamerikas entstanden war, welche während des Sezessionskriegs ihre Kraft erprobt hatten. Der Bund war schon 1861 begründet worden, 1863 bereits war zu Chicago ein fenischer Kongreß zusammengetreten und hatte als das Ziel der Bewegung die Errichtung einer von G. unabhängigen irischen Republik proklamiert. John Stephens, das Haupt der Fenier, war seit 1864 in Irland thätig; als jetzt die Beendigung des amerikanischen Kriegs eine große Anzahl irischer Unionssoldaten der Werbung zugänglich machte, dachten die Führer loszuschlagen, und 8. Sept. erließ Stephens ein Rundschreiben in diesem Sinn. Aber die Regierung ergriff sofort die geeigneten Maßregeln; schon 12. Sept. segelte die Kanalflotte von Spithead ab, um an der Küste Irlands Station zu nehmen. Wenige Tage darauf besetzte die Dubliner Polizei die Druckerei des Hauptorgans der Fenier, des "Irish People", und verhaftete eine Anzahl Personen. Zunächst folgte die Erklärung des Kriegszustandes in Stadt und Grafschaft Cork, und gleichzeitig wurde ein Preis von 200 Pfd. Sterl. auf die Ergreifung John Stephens' gesetzt, während in Kanada Vorkehrungen gegen einen Einfall der amerikanischen Fenier, den man befürchtete, getroffen wurden. Dublin, wo man 11. Nov. John Stephens verhaftete, erhielt starke militärische Besatzung; Stephens aber entkam noch vor dem Ende des Monats, und die Versuche, seiner durch Aussetzung hoher Preise für seine Ergreifung wieder habhaft zu werden, blieben ohne Erfolg. Dagegen wurden von den in Dublin Verhafteten die beiden Herausgeber des "Irish People" zu 20jähriger, ein dritter sogar zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Auch zu Cork fanden Verurteilungen statt. Die Erregtheit der Stimmung dauerte indes fort, und so wurden im Januar 1866 für Stadt und Grafschaft Dublin Ausnahmegesetze publiziert, wodurch es den Behörden möglich ward, ohne weiteres Haussuchungen anzustellen.

In der am 6. Febr. 1866 eröffneten Parlamentssitzung traten die Angelegenheiten von Irland sowie die Reformfrage in den Vordergrund. Hinsichtlich Irlands blieben zwar die Versuche der irischen Parlamentsmitglieder, die protestantische Kirche in Irland ihres Charakters als Staatskirche zu entkleiden, für jetzt noch erfolglos; dagegen wurde ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der Pachtverhältnisse eingebracht, welcher von vielen Seiten als eine äußerst wohlthätige Maßregel mit Freude begrüßt wurde. Gegen die fenischen Unruhen blieben indes immer noch Ausnahmemaßregeln erforderlich, und die im Februar ausgesprochene Suspension der Habeaskorpusakte für Irland wurde im August erneuert. Anfang Juni schlug ein in Kanada versuchter Fenierputsch gänzlich fehl: es wurden dabei mehrere der Verschwornen verhaftet und einige von diesen zum Tod verurteilt. Im Dezember regten sich die Fenier dann in Irland selbst wieder, so daß neue Verhaftungen stattfanden, mehrere Bezirke in Belagerungszustand versetzt, die Küsten durch Schiffe bewacht und in England selbst Milizen für gewisse Fälle bereit gehalten wurden.

Die Parlamentsreform.

Inzwischen hatte die Parlamentsreformfrage eine Ministerkrisis herbeigeführt. Am 12. März legte Gladstone dem Unterhaus seinen darauf bezüglichen Entwurf vor. Die von ihm in Aussicht genommene Erweiterung des Wahlrechts war erheblich genug. Für die Grafschaften wollte er den Zensus von 50 auf 14, für die Städte zu gunsten der Arbeiter auf 7 Pfd. Sterl. jährlichen Mietswert herabsetzen; sein System würde die Wähler um 400,000 Mann, darunter 200,000 eigentliche Arbeiter, vermehrt haben. Nicht nur die konservative Partei erhob sich dagegen zu energischem Widerstand, sondern selbst in den Reihen der Liberalen trat eine Spaltung ein, indem sich von dem Gros der Partei eine Fraktion unter Führung von Horsman und Rob. Lowe absonderte (die nach einem Witzwort Brights sogen. Adullamiten), welche vor den Folgen einer die Wahlberechtigung so sehr ausdehnenden und dem allgemeinen Stimmrecht so nahe kommenden Reform die ernstesten Besorgnisse hegte. Bei der ersten und zweiten Lesung behauptete die Regierung noch den Sieg, zuletzt freilich nur noch mit 5 Stimmen Mehrheit; aber bei der Komiteeberatung erlitt sie eine prinzipielle Niederlage, indem 18. Juni ein Amendement mit 10 Stimmen Mehrheit angenommen wurde, wodurch der städtische Wahlzensus thatsächlich, statt auf 7, auf 9 Pfd. Sterl. festgesetzt und somit ein großer Teil der eigentlichen Arbeiterklasse von dem Wahlrecht ausgeschlossen worden wäre. Darauf nahm das Ministerium 26. Juni seine Entlassung, und so kamen in einem abermaligen Ministerium Derby die Tories wieder in den Besitz der Gewalt. Disraeli übernahm wiederum das Schatzamt und die Führerschaft im Unterhaus; Lord Stanley ward Minister der auswärtigen, Walpole der innern Angelegenheiten, General Peel Kriegs-, Pakington Marineminister, Lord Cranborne Staatssekretär für Indien, Lord Cairns Lord-Kanzler. Die Parlamentsreform ward nun zunächst vertagt, aber die Bewegung im Lande dauerte fort und machte sich in zahlreichen stürmischen Reformversammlungen, welche seit der ersten großen Kundgebung vor dem Hydepark in London in den Tagen vom 23.-25. Juli bis zum Ende des Jahrs fortdauerten und in einer großen Stadt nach der andern hervortraten, Luft.

Schon in der Parlamentssession des Jahrs 1867 sah sich die Regierung genötigt, dem Drängen des Landes nachzugeben und in der Frage der Parlamentsreform die Initiative zu ergreifen; am 18. März legte Disraeli seinen darauf bezüglichen Entwurf dem Unterhaus vor. Seine Bill war im Prinzip viel radikaler als die letzte, von Gladstone eingebrachte. Ihre Grundlage war das sogen. Household-suffrage, d. h. das Wahlrecht jedes Eigentümers oder Mieters eines Hauses ohne Rücksicht auf den Mietzins; dagegen wollte sie den Konservativen durch Beschränkung des Wahlrechts auf den Selbststeuerzahler, durch Einräumung von zwei Stimmen an gewisse Kategorien von Wählern, endlich durch die Bedingung, daß nur die Hausmieter stimmberechtigt sein sollten, welche ein Haus zwei Jahre lang innehatten, gewisse Garantien geben. Während der langen Debatten über diese Vorschläge richtete sich die Opposition der Liberalen hauptsächlich gegen diese letztern Beschränkungen, und in der That gab Disraeli in den meisten Punkten nach, ließ das Doppelstimmrecht fallen, verzichtete auf die Forderung zweijähriger Wohnung und die Selbstzahlung der Steuern, ja gestand sogar auf Gladstones Antrag auch den Zimmermietern von