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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Handelskrisis

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Handelskrisis (Häufigkeit, Vorbeugungs- und Heilmittel der Krisen).

einer vorausgehenden tollen Agiotage zusammenhing, hatte zwar einen mehr lokalen Charakter, erschütterte aber nicht nur die französischen, sondern auch die übrigen europäischen Geldmärkte. In Lyon begann die Deroute Mitte Januar, in Paris hatte sie in den letzten Tagen des Januars ihren Höhepunkt erreicht; zwar vollzog sich die Liquidation rascher, als man anfänglich besorgen mußte, aber das Mißtrauen des Kapitals wurde durch diese Vorfälle neuerdings wachgerufen. Seit 1884 nimmt die Nachwirkung der Krisis einen schleichenden Verlauf, dessen hauptsächliche Symptome die tiefe Senkung der meisten Güterpreise, die geringe Rentabilität der Unternehmungen, die niedrigen Diskontsätze, der Mangel jedes Impulses zu neuen wirtschaftlichen Schöpfungen und die immer sich verschlimmernden sozialen Zustände mit wachsendem Gegensatz der arbeitenden und kapitalistischen Klassen bilden.

Häufigkeit und Periodizität der Krisen. Vorbeugungs- und Heilmittel.

Die wirtschaftliche und soziale Entwickelung der neuern Zeit trägt wesentlich dazu bei, die Krisen häufiger und intensiver zu machen. Zunächst liegen die Keime derselben in der veränderten Produktionsweise; seitdem die Arbeitsteilung im größten Umfang angewendet und die Maschine an Stelle der Handarbeit gesetzt wurde, wird es immer schwieriger, die Produktion den wirklichen Bedürfnissen anzupassen; es treten sehr leicht Überschätzungen der Aufnahmsfähigkeit der Märkte ein, welche erst fühlbar werden, wenn es schon zu spät ist; jeder trachtet, die Kapitalien und Arbeiter auch dann noch zu beschäftigen, wenn er knapp an der Grenze der Rentabilität angelangt ist, und in diesem Kampf lassen sich viele sogar verleiten, zeitweilig mit Verlusten fortzuarbeiten, um ihre schwächern Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Notverkäufe und Schleuderpreise beschleunigen dann den Ausbruch der Krisen. Hierzu kommt weiter, daß die Vermittlerthätigkeit durch Kaufleute, Makler, Agenten etc. in neuerer Zeit sehr umfangreich ausgebildet worden ist; diese Personen haben das Interesse, den wahren Zustand des Marktes möglichst zu verschleiern; Spekulationen führen zu geheimer Aufhäufung von Vorräten oder zu ebensolcher Räumung der Lagerbestände, sie führen zu Verabredungen (Kartellen, rings), um die Marktpreise künstlich zu erhöhen oder zu erniedrigen, und rufen dadurch gewaltsame Störungen des Gleichgewichts hervor. Ein weiterer Grund der Häufigkeit liegt in der großartigen Ausbildung des Kredits, welcher neben seinem vorteilhaften Gebrauch auch den gefährlichen Mißbrauch zuläßt, zur Überspekulation auch dann noch die Mittel bietet, wenn die eigne Kraft längst fehlt, und dessen allgemeine Verbreitung es mit sich bringt, daß Krisen rasch weiter verpflanzt und auf alle Schichten der Gesellschaft in allen zivilisierten Ländern übertragen werden. Daß endlich das moderne Verkehrswesen ebenfalls zur territorialen Ausdehnung und zum intensivern Auftreten dieser wirtschaftlichen Krankheiten beiträgt, ist selbstverständlich. Es besteht unleugbar eine gewisse Periodizität in der Wiederkehr der Krisen, indem dieselben seit 1815 in je zehn- bis elfjährigen Zeitabschnitten ausbrechen oder ihren Höhepunkt erreichen. (Englische und spätere universelle Krisen von 1815, 1825, 1836, 1847, 1857, 1866, 1873, resp. Tiefpunkt der Depression 1875/76 und neuer Tiefpunkt 1885). Diese Periode trifft nahezu mit derjenigen der Häufigkeit der Sonnenflecke (s. d.) zusammen; es wurde daher von Jevons u. a. versucht, einen Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen in solcher Art herzustellen, daß mit dem Sonnenfleckenmaximum und -Minimum der Reichtum der Ernten in den ostasiatischen und tropischen Gebieten wechselt und dadurch die größere oder geringere Kaufkraft jener Hunderte von Millionen Bewohnern, die sich teilweise schon mit europäischen Industrieerzeugnissen versorgen, modifiziert wird. Wechselnde Absatzfähigkeit für die Weltindustrien und wechselnde Impulse im Welthandel würden die nächste Folge und zugleich die Veranlassung der Krisen sein. Diese geistreiche Hypothese ist jedoch noch keineswegs erwiesen. Man könnte sich immerhin eine gewisse Periodizität auch aus dem Verlauf der menschlichen und sozialen Strebungen und den Fluktuationen zwischen Sparsamkeit und Leichtsinn, Arbeit und Spielsucht, Genügsamkeit und Luxus erklären.

Was die Verhütung betrifft, so kann wohl nicht die Rede davon sein, daß irgend ein Verwaltungssystem im stande wäre, den Krisen ganz vorzubeugen. Man nennt als "diätetische" Mittel: Verbreitung gediegener volkswirtschaftlicher Bildung, besonders der Kenntnisse über die Unternehmungsbedingungen, über den Kredit etc.; Einbürgerung des Selfgovernment an Stelle der polizeilichen Einmengung der Staatsverwaltung, um den Einzelnen zur Selbsthilfe und zur selbständigen Kritik anzuleiten; Beseitigung aller Einschränkung, welche den Charakter der Bevormundung oder künstlicher Unterdrückung der Konkurrenz trägt, und Einführung strenger administrativer Kontrolle; solide Grundlagen des Münz- und Geldwesens und gute Organisierung der Zettelbanken, deren rationelles Eingreifen oft Krisen im Keim ersticken kann; endlich möglichst hohe Ausbildung der Statistik von Produktion und Verkehr sowie thunlichste Veröffentlichung der umfassendsten Nachrichten über Ernten, Produktion in Gewerbe und Industrie, Verlauf des Handels, Thätigkeit der Verkehrsanstalten, um vor Überproduktion und Überspekulation zu warnen und jeden über die wahre Lage des Marktes aufzuklären. Nur das letzterwähnte Mittel scheint uns von wirklicher praktischer Bedeutung; die vorgeschrittenen Nationen streben immer mehr nach einem umfassenden, jedem leicht zugänglichen Nachrichtendienst, und diesem ist es wohl zumeist zu danken, daß die rückläufige Bewegung in den Jahren 1884 und 1885 ohne eigentliche Katastrophe eingeschlagen werden konnte.

Die Heilmittel der Krisen sind zumeist in denjenigen Veränderungen selbst gelegen, welche deren Ausbruch hervorruft. Der Sturz der Güterpreise führt zu einer allgemeinen Erniedrigung der Unterhalts- und Gestehungskosten, ermöglicht daher eine größere Konsumtion, dadurch Hebung der Nachfrage, Räumung der überfüllten Lager, Wiederkehr normaler Produktion. Die unsoliden und krankhaften Unternehmungen brechen zusammen, nach ihrer Liquidation haben die gesunden und kräftigen Erwerbszweige die Möglichkeit, sich wieder zu entfalten. Die Sparsamkeit und Ängstlichkeit bewirken die Bildung neuer Kapitalien, welche sich soliden Unternehmungen und den Überresten, die aus dem Zusammenbruch gerettet wurden, zuwenden, und diese können, nachdem gewissermaßen durch die frühern Vermögensverluste große unfreiwillige Amortisationen erfolgt sind, billiger produzieren. So kann bald nach einer Krisis sowohl die Konsumtion als die Produktion auf einem höhern Punkt stehen als vorher, freilich nicht ohne vorhergehende schwere und schmerzliche Opfer. In dem Bewußtsein des erzielbaren Fortschritts liegt nun natürlich häufig schon wieder der Anlaß, um über das Ziel hinauszuschießen und den Keim einer neuen Krisis zu legen. S. auch Börse (bes. S. 237). Vgl. M. Wirth,