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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Herder

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Herder.

Seine "Terpsichore" (Lübeck 1795), welche den vergessenen neulateinischen Dichter Jakob Balde wieder einführte, seine "Christlichen Schriften" (Riga 1796-1799, 5 Sammlungen), in denen das unbeirrteste Gefühl für den eigentlichen Kern des Christentums den schönsten und maßvollsten Ausdruck fand, seine Aufsätze für Schillers "Horen" bewährten den alten Herderschen Geist. Aber voll grimmer Bitterkeit und dazu mit unzulänglichen Waffen bekämpften Herders "Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft" (Leipz. 1799, 2 Tle.) und die "Kalligone" (das. 1800) die Philosophie Kants, voll absichtlicher Verkennung und unwürdiger Lobpreisung des Abgelebten und Halben richtete seine "Adrastea" (das. 1801-1803, 6 Tle.) alle ihre versteckten Spitzen gegen die lebendige, schönheitsfreudige Dichtung Goethes und Schillers. Nur die Qual eines Zustandes, der ihn tief niederdrückte, und in dem er sich selbst bald als "dürrer Baum und verlechzte Quelle", bald als "Packesel und blindes Mühlenpferd" schilderte, konnte diese letzte verhängnisvolle Wendung seiner litterarischen Thätigkeit entschuldigen. Letzte Erquickung bereitete ihm, dessen körperliche Kraft mehr und mehr erlag, die poetische Arbeit an seinen "Legenden", an der Übertragung der Romanzen vom "Eid" und an den dramatischen Gedichten: "Prometheus" und "Admetus' Haus". Die Annahme eines vom Kurfürsten von Bayern 1802 ihm verliehenen Adelsdiploms bereitete H. schweren Ärger, und seine endliche Ernennung zum Präsidenten des Oberkonsistoriums kam zu spät, ihm Lebensmut zurückzugeben. In den Sommern 1802 und 1803 suchte er Heilung in den Bädern von Aachen und am Egerbrunnen, im Herbste des letztgenannten Jahrs erfolgte ein neuer heftiger Anfall seines unheilbaren Leberübels, dem er 18. Dez. 1803 erlag. Vor der Stadtkirche zu Weimar wurde ihm 1850 ein ehernes Standbild (modelliert von Schaller) errichtet.

Mannigfach rätsel- und widerspruchsvoll, ungleicher in seinen Leistungen als seine großen Zeitgenossen, aber unvergleichlich reich, vielseitig, voll höchsten Schwunges und schärfster Einsicht, eine Fülle geistigen Lebens in sich tragend und um sich erweckend, steht H. in der deutschen Litteratur. In der großen Umbildung des deutschen Lebens am Ende des vorigen Jahrhunderts hat er mächtiger und entscheidender eingegriffen als einer, und die Spuren seines Geistes lassen sich in der Litteratur im engern Sinn, in Fachwissenschaften und Spezialzweigen, die aus seinen Anregungen hervorgegangen sind, überall nachweisen. Der verschwenderische Überreichtum seiner Gedanken, die Genialität seiner Einsichten und die wunderbarste Anempfindung für das echt Poetische offenbaren sich in beinahe allen seinen Werken; die Forderung der "Humanität", der Heranbildung und Läuterung zum vergöttlichten Menschlichen, einem Lebens- und Bildungsideal, dem noch ganze Jahrhunderte nachringen können, ist der durchgehende Grundgedanke in der Vielheit und Mannigfaltigkeit seiner Schriften. Bei allen seinen Gaben war ihm die künstlerische Gestaltungskraft versagt, so daß er als Dichter nur in einzelnen glücklichen Momenten und auf dem Gebiet der didaktischen Poesie zu wirken vermochte. Die Verbindung seines eignen ethischen Pathos mit Stimmungen und Gefühlen, welche ihm aus der Dichtung der verschiedensten Zeiten und Völker aufgingen, war nie ohne Reiz; sein Verdienst als poetischer Übersetzer, als Aneigner und Erläuterer fremden poetischen Volksgeistes kann kaum zu hoch angeschlagen werden. Die große Zahl von Herders poetischen Übertragungen aus den verschiedensten Sprachen, ihre Auswahl und die Resultate, welche H. jedesmal aus ihnen zog, haben einer allgemeinen, über die "Gelehrtengeschichte" der vorausgegangenen akademischen Perioden hinauswachsenden Litteraturgeschichte den Boden bereitet. Neben den "Stimmen der Völker in Liedern" dem "Cid", den Epigrammen aus der griechischem Anthologie, den Lehrsprüchen aus Sadis "Rosengarten" und der ganzen Reihe andrer Dichtungen und poetischer Vorstellungen, welche Herders anempfindender Geist für die deutsche Litteratur gewann, stehen jene morgenländischen Erzählungen, jene Paramythien und Fabeln, die H. im Wiedererzählen benutzt, Momente seiner eignen sittlichen Anschauung, seiner Humanitätslehre beizugesellen, und die hierdurch wie durch ihre Vortragsweise zu seinem geistigen Eigentum werden. Höher aber als der Dichter steht überall der Prosaiker H., der große Kulturhistoriker, Religionsphilosoph, der feinsinnige Ästhetiker, der im Sinn Lessings und doch in völlig andrer Erscheinung produktive Kritiker, der glänzende Essayist, der gehaltreiche und in der Form anmutvolle Prediger und Redner. Es ist Herders eigenstes Mißgeschick gewesen, daß die großen Resultate seines Erkennens und Strebens rasch zum Gemeingut der Bildung, seine Anschauungen zu Allgemeinanschauungen wurden, so daß es erst der historischen und kritischen Zurückweisung auf die Genialität, die seelische Tiefe und den verschwenderischen Gedankenreichtum der Herderschen Schriften bedurfte, um das größere Publikum zu denselben zurückzuführen.

Herders "Sämtliche Werke" erschienen zuerst in einer von J. Georg Müller, Johannes v. Müller und Heyne unter Mitwirkung von Herders Witwe u. Sohn veranstalteten Ausgabe (Stuttg. 1805-20, 45 Bde.; mit den Nachträgen 1827-30, 60 Bde.; spätere Ausg., das. 1852-54, 40 Bde.). Die Entfremdung des Publikums veranlaßte die "Ausgewählten Werke" in einem Band (Stuttg. 1844), "Geist aus Herders Werken" (Berl. 1826, 6 Bde.), "Ausgewählte Werke" (hrsg. von H. Kurz, Hildburgh. 1871, 4 Bde.), "Ausgewählte Werke" (hrsg. von Ad. Stern, Leipz. 1881, 3 Bde.). Dagegen erstrebten wieder Vollständigkeit die Ausgabe in der Hempelschen "Nationalbibliothek" (Berl. 1869-79, 24 Tle., mit Biographie von Düntzer) und die große kritische, von Suphan geleitete Ausgabe von "Herders Werken" (das. 1877 bis 1887, 32 Bde.), eine Musterarbeit ersten Ranges, ein Zeugnis höchster Pietät, Gewissenhaftigkeit und kritischer Sorgfalt. Auf Grund der letztern Ausgabe gaben Suphan und Redlich "Herders ausgewählte Werke" (Berl. 1884 ff.) in 9 Bänden heraus. Eine ungekrönte Preisschrift Herders: "Denkmal Joh. Winckelmanns", von 1778 gab Alb. Duncker (Kassel 1882) heraus. Sammlungen von Briefen Herders veröffentlichen Düntzer und F. G. v. Herder in den Werken: "Aus Herders Nachlaß" (Frankf. 1856-57, 3 Bde.), "Herders Briefwechsel mit seiner Braute" (das. 1858), "Herders Reise nach Italien" (Gießen 1859) und "Von und an H." (Leipz. 1861-62, 3 Bde.). Vgl. auch Suphan, Goethe und H. ("Preußische Jahrbücher" 1878). Ein sehr reichhaltiger litterarischer Nachlaß Herders ward für die königliche Bibliothek in Berlin angekauft und von Suphan und seinem Mitarbeitern bei der kritischen Ausgabe wohl benutzt.

Von biographisch-kritischen Schriften über H. sind außer den von seiner Gattin gesammelten "Erinnerungen" (s. unten) und dem von seinem Sohn Emil Gottfried v. H. verfaßten "Lebensbild" (Erlang. 1846-47, 3 Bde.) zu erwähnen: Danz und Gruber, Charakteristik J. G. v. Herders (Leipz. 1805);