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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hessen

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Hessen (Großherzogtum: Rechtspflege, Kirchenwesen, Finanzen).

Über Verwaltungsstreitigkeiten entscheidet der Verwaltungsgerichtshof im öffentlichen und mündlichen Verfahren. Die Verwaltung sämtlicher sogen. innern Angelegenheiten leitet das Ministerium des Innern und der Justiz mit seiner Sektion für innere Verwaltung. Ihm sind für einzelne Geschäftszweige besondere Zentralstellen untergeordnet, z. B. die Zentralstellen für die Landesstatistik, für die Gewerbe und für die Landwirtschaft (sämtlich in Darmstadt). An der Spitze jeder Provinz des Landes steht eine Provinzialdirektion, an der eines jeden der 18 Kreise ein Kreisamt (mit einem Kreisrat). Jeder Kreis bildet einen Verband zur Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten, mit den Rechten einer Korporation. Dasselbe gilt von den Provinzen. Für jeden Kreis besteht ein Kreistag, dessen Mitglieder zu 1/3 von den Höchstbesteuerten, zu 2/3 von den Bevollmächtigten der Gemeindevorstände auf 6 Jahre gewählt werden. Nach 3 Jahren scheidet die Hälfte aus. Den Vorsitz hat der Kreisrat. Zur Verwaltung der Angelegenheiten des Kreises, nach Maßgabe der Gesetze und der Beschlüsse des Kreistags, ist der Kreisausschuß bestellt, welcher aus dem Kreisrat und 6 von dem Kreistag auf 6 Jahre gewählten Mitgliedern besteht. In analoger Weise ist der Provinzialtag, dessen Abgeordnete von den Kreistagen der Provinz ebenfalls auf 6 Jahre gewählt werden, zur Vertretung des Provinzialverbandes und der Provinzialausschuß (bestehend aus dem Provinzialdirektor und 8 von dem Provinzialtag auf 6 Jahre gewählten Mitgliedern) zur Verwaltung der Angelegenheiten der Provinz, beide unter der Leitung des Provinzialdirektors, berufen. Die Oberaufsicht des Staats über die Provinzial- und Kreisverbände übt das Ministerium des Innern und der Justiz. Auf dessen Antrag kann ein Provinzial- sowie Kreistag durch landesherrliche Verordnung aufgelöst werden, worauf neue Wahlen binnen 6 Monaten stattzufinden haben.

Rechtspflege, Kirchenwesen.

Die Justiz ist von der Verwaltung scharf getrennt. Soweit nicht durch die Reichsgesetzgebung (z. B. das Handelsgesetzbuch seit 1862, die Wechselordnung seit 1849, die Konkursordnung seit 1877 etc.) mit den andern deutschen Bundesstaaten gemeinsames Recht eingeführt ist, gilt in H., abgesehen von Rheinhessen, wo das französische Recht in Geltung geblieben ist, für Zivilrecht gemeines Recht, modifiziert durch Landrechte (Katzenelnbogener, Erbacher, Solmser, Kurmainzer, Pfälzer etc. Landrecht), ferner Stadtrechte (z. B. Wimpfen) und einzelne Landesgesetze (insbesondere das Pfandgesetz von 1858, das Gesetz über die Erwerbung des Grundeigentums von 1852, das Gesetz über die Verjährung der persönlichen Klagen von 1853); für den Strafprozeß gilt die deutsche Strafprozeßordnung vom 1. Febr. 1877. Gemeinsam für das ganze Land sind weiter: das Reichsstrafgesetzbuch von 1872, das Polizeistrafgesetz von 1855, soweit es nach dem Übergangsgesetz vom 10. Okt. 1871 noch neben dem Reichsstrafgesetzbuch in Geltung geblieben ist, und das deutsche Militärstrafgesetz vom 20. Juni 1872 sowie die Disziplinarstrafordnung für das Heer vom 31. Okt. 1872. Für das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gilt die Reichszivilprozeßordnung vom 30. Jan. 1877. Administrativbehörde für die oberste Leitung des Justizwesens ist das Ministerium des Innern und der Justiz mit einer Sektion für Justizverwaltung. Die Rechtspflege wird gehandhabt in Gemäßheit des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Jan. 1877. Es bestehen: ein Oberlandesgericht zu Darmstadt (letzte Instanz, insofern nicht als solche das Reichsgericht zuständig ist), drei Landgerichte: zu Darmstadt, Gießen und Mainz (für jede Provinz eins), Schwurgerichte zu Darmstadt, Gießen und Mainz, Kammern für Handelssachen zu Darmstadt, Offenbach, Gießen, Mainz und Worms, 49 Amtsgerichte, ein Rheinschifffahrtsgericht zu Mainz, ferner eine kaiserliche Disziplinarkammer zu Darmstadt sowie Militärgerichte.

Das Verhältnis des Staats zur Kirche ist durch die Kirchengesetze vom 23. April 1875 geregelt: 1) Gesetz, betreffend die rechtliche Stellung der Kirchen- und Religionsgemeinschaften im Staat; 2) Gesetz, betreffend den Mißbrauch der geistlichen Amtsgewalt; 3) Gesetz, betreffend die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen; 4) Gesetz, betreffend die Orden und ordensähnlichen Kongregationen; 5) Gesetz, betreffend das Besteuerungsrecht der Kirchen- und Religionsgemeinschaften. Nach der Kirchenverfassung vom 6. Jan. 1874 umfaßt die evangelische Landeskirche sämtliche evangelische (lutherische, reformierte und unierte) Gemeinden des Großherzogtums, unbeschadet des Bekenntnisstandes der einzelnen Gemeinden. Das Kirchenregiment wird von dem evangelischen Landesherrn nach Maßgabe der Verfassung durch die oberste Kirchenbehörde, das Oberkonsistorium, ausgeübt. Jede Kirchengemeinde verwaltet innerhalb der verfassungsmäßig bestimmten Grenzen ihre Angelegenheiten selbst, und zwar zunächst durch die Gemeindevertretung und den Kirchenvorstand. Die Gesamtheit der evangelischen Kirchengemeinden eines Dekanats (die Zahl derselben beträgt 23) findet ihre Vertretung in der in der Regel einmal jährlich zusammentretenden Dekanatssynode, bestehend aus sämtlichen Geistlichen des Dekanats und ebenso vielen von den Gemeindevertretungen gewählten weltlichen Mitgliedern. Vorsitzender ist der Dekan, welcher von der Dekanatssynode für 6 Jahre gewählt und von dem Großherzog bestätigt wird. Die Gesamtheit der evangelischen Kirche wird durch die Landessynode vertreten. Dieselbe tritt regelmäßig alle 5 Jahre zusammen und besteht aus je einem geistlichen und je einem weltlichen von jeder Dekanatssynode gewählten Abgeordneten, dem evangelischen Prälaten und 7 (3 geistlichen und 4 weltlichen) von dem evangelischen Landesherrn zu ernennenden Mitgliedern. Der Landessynode steht das Gesetzgebungsrecht in allen kirchlichen Angelegenheiten in Gemeinschaft mit dem Landesherrn zu. Die katholische Landeskirche (Landesbistum Mainz) bildet einen Bestandteil der oberrheinischen Kirchenprovinz und steht unter einem Bischof (mit Domkapitel), dem wiederum 16 katholische Dekanate und 158 Pfarreien untergeordnet sind. Für den israelitischen Kultus bestehen 7 Rabbinate (1880: 26,746 Israeliten).

Finanzen, Heerwesen etc.

Die jährlichen Einnahmen des Staats betragen nach dem Staatsbudget für die Finanzperiode 1885 bis 1888: 19,902,099 Mk., nämlich aus:

^[Liste]

Domänen 333189 Mark

Regalien 6900 Mark

Direkten Steuern 8200186 Mark

Indirekten Auflagen 4411298 Mark

Überschüssen, Strafen etc. 2950526 Mark

Die Ausgaben betragen 18,416,098 Mk., nämlich:

^[Liste]

Lasten, Abgänge etc. 1212630 Mk.

Staatsschuld 1211734 Mk.

Pensionen 990657 Mk.

Zivilliste und Apanagen 1255917 Mk.

Landstände 44650 Mk.

Staatsministerium 315540 Mk.