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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Idiotie

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Idiotie (äußere Erscheinung, typische Formen, Behandlung).

operationen stehen; die psychischen Akte entbehren der Raschheit, Schärfe, Logik und der Spontaneität.

Hiernach gestaltet sich auch die äußere Erscheinung der Idioten, die bald plump, ungelenk, still im Winkel hockend, träumerisch den Blick ins Leere gerichtet, geifern, ihre Exkrete von sich gehen lassen oder die Fingernägel abkauen, die Haare auszupfen, die Kleider zerzupfen, bald unmotiviert umherspringen, tanzen, im Ring sich drehen, trällern, lachen, laut aufkreischen, nergeln, weinen oder plötzlich aus einer Ecke in die andre schießen, bald in monotonen Schaukelbewegungen den ganzen Oberkörper nach Art der Bären hin- und herwiegen, einen Faden vor den Augen drehen, starr in die Sonne sehen, die gespreizten Finger vor den Augen auf- und abbewegen, alles betasten, belecken, beriechen, zerstören oder mutwillig umwerfen.

Die einzelnen typischen Formen der I., wie sie aus der Praxis herausgegriffen sind, können in folgende zusammengefaßt werden. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß bei den Makrokephalen mehr der torpide, bei den Mikrokephalen mehr der agitierte (versatile) Typus vorherrscht. Eine ganz besondere Art der Mikrokephalie ist der Aztekentypus mit verschwindend niederm Schädeldach, zurücktretendem Stirnteil, vorstehenden Augäpfeln, scharf hervortretender, spitzer Nase und zurückweichendem, kleinem Kinn, so daß diese Art von Idioten einem Vogelkopf ähnelt. Eine andre Form kommt vorwaltend bei dem breiten Plattschädel vor mit vorgedrängtem Stirnteil, tief eingedrücktem Nasenrücken, aufgestülpter Nase, breitem und vorstehendem Oberkiefer. Was endlich die Typen anlangt, welche von der gesamten Konstitution abhängig sind, so treten vornehmlich zwei Formen hervor, denen die lymphatisch-skrofulöse Konstitution zu Grunde liegt. Die Idioten der einen Form zeichnen sich durch auffällige Kleinheit des ganzen Körpers wie auch des Schädels aus, haben hervorquellende Augen, kleines, stumpfes, aufgestülptes Näschen, aufgesprungene Lippen, dicke, zerfurchte Zunge, kahnförmig gewölbten, harten Gaumen, defekte Zähne, dünnen Hals, schmale, flache Brust, aufgetriebenen Unterleib, rhachitisch gekrümmte, dünne Beine, rauhe, näselnde Stimme und sind beweglich, agil, stets munter, fahrig und possenhaft. Die Prognose ist schlecht. Die andre Form ist der Kretin, eine Komplikation der I. mit körperlicher Verunstaltung und plumpem Äußern, dessen Grundtypus in dem sogen. alpinen oder endemischen Kretin sich ausspricht.

Neben diesen Typen treten einzelne schärfer sich abzeichnende Formen psychischer Abnormitäten heraus, welche den wirklichen Psychosen mehr oder weniger entsprechen und als kindliche Irreseinsformen zu bezeichnen sind. Hierher gehören die Zustände von Beängstigungen mit Willensschwäche, Abneigung gegen Berührung, gegen den Verkehr mit andern, mit Vernichtungs- und Selbstvernichtungstrieb (meist bei Epileptikern), wie sie in der Melancholie vorkommen; die Exaltationszustände mit Zerstörungstrieb und Lärmsucht, welche der Manie entsprechen; die perversen Sinnesempfindungen, Halluzinationen und krankhaften Auffassungen alles Geschehens, wie beim Wahnsinn, wobei eine größere geistige Kapazität vorausgesetzt werden muß. Gerade diese Formen des kindlichen Irreseins werden oft als Ungezogenheiten, Bosheiten u. dgl. aufgefaßt und geben Anlaß zu ungerechter, falscher Behandlung (s. unten).

Die Komplikationen der I. mit andern Krankheitszuständen sind im allgemeinen ziemlich häufig und mannigfaltig; am häufigsten sind wohl die Epilepsie und die ihr verwandte Chorea, die halbseitige, die Querlähmung, die Kontrakturen und Lähmungen einzelner Glieder, die Paralysis agitans (Zitterlähmung), die allgemein fortschreitende Lähmung (nur vereinzelt beobachtet), die hysterischen Krämpfe. Die Komplikationen, welche speziell die Sinnesorgane betreffen, hängen zum größten Teil mit zentralen Störungen zusammen oder sind bedingt durch Konstitutionsanomalien, wie Skrofulosis, Rhachitis, hereditäre Syphilis, akute Exantheme. Hierher gehören die Lichtscheu, das Schielen, der Nystagmos (Augenzittern), die Augenwassersucht, der schwarze Star, das Staphylom, das En- und Extropium, der chronische Ohrenfluß, die Krankheiten des äußern und innern Ohrs, die Taubstummheit, der Geruchsmangel; unter den Hemmungsbildungen sind die Hasenscharte und der Wolfsrachen zu erwähnen und endlich die hartnäckigen Hautausschläge auf der Kopfschwarte wie auf den übrigen Hautdecken.

Die I. bietet ihrem degenerativen Wesen nach eine sehr traurige Prognose für die Heilung, wenn auch vereinzelte Fälle von körperlichen Schwäche- und Ernährungszuständen nach vorausgegangenen akuten Krankheiten eine Ausnahme bilden dürften; allein sie ist dennoch besserungsfähig und bedarf deswegen immer der dringendsten Beachtung und pfleglicher Behandlung, wenn nicht durch Vernachlässigung und Verwahrlosung für die Gesellschaft, die Familien und Individuen selbst unübersehbare Nachteile entstehen sollen. Die Behandlung richtet sich nach dem Grade des Blödsinns und nach den Komplikationen und muß deshalb durchaus individualisierend sein. Dieselbe kann aber, da hierzu ein intimes Verhältnis des oft sehr dunkeln Zustandes vorausgesetzt werden muß, keineswegs ausreichend innerhalb des Familienkreises gepflegt und ausgeübt werden, sondern kann eigentlich nur in hierzu eigens eingerichteten Anstalten mit besonders geschultem Personal von wirklichem Vorteil sein. Noch weit mehr als die Irrsinnigen gehören die Idioten in diese Anstalten, deren Aufgabe es ist, die I. durch direkten und indirekten Einfluß, Schutz vor Reizungen, Unbilden und übeln Beeinflussungen sowie vor tieferm Versinken zu bekämpfen, entsprechend zu nähren, zu kräftigen und womöglich in die Bahnen nützlicher Thätigkeit zu leiten, vor allem aber die rudimentären geistigen Kräfte zu konservieren, auszubilden und der Norm möglichst nahe zu bringen. Dies geschieht durch Pflege, Erziehung und Unterricht. Da nun der ganze Zustand ein psychopathologischer ist, so sind vor allen Dingen die Irrenärzte berufen, die Leitung solcher Anstalten zu übernehmen und nach den Bedürfnissen der individuellen Krankheitszustände des Gehirns die Pflege wie die Erziehung zu überwachen.

Die Pflege der Verkümmerten, Verkrüppelten und Siechlinge, wie sie entweder den Anstalten zugeführt werden, oder wie sich das traurige Ende ihres kümmerlichen Daseins so oft gestaltet, fällt ganz mit der gewöhnlichen Krankenpflege zusammen, und selbst die Spiele, die Beschäftigungen und der erste Anschauungsunterricht erheischen das Festhalten an jenen Grundsätzen der Diätetik. Hier berühren sich die Aufgaben des Arztes und Pädagogen, und es war zuerst Karl Ferd. Kern, der sich als Taubstummenlehrer schon 1839 mit der Erziehung der idiotischen Kinder beschäftigte, später in der Erkenntnis jener Notwendigkeit selbst Medizin studierte und nach den Grundsätzen seiner Dissertation "De fatuitatis cura et medica et paedagogica consocianda" die von ihm