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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kant

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Kant (Kants Philosophie).

denden Objekt (dem Ding an sich) entstammt, die Materie aller Erfahrung. Erstere, weil dem Subjekt angehörig, macht das idealistische, letztere, weil auf ein (von diesem verschiedenes) Objekt bezogen, das realistische Element von Kants Philosophie aus, an welche beiden nachher die entgegengesetzten Richtungen seiner (idealistischen: Fichte, Schelling, Hegel, und realistischen: Herbart, Schopenhauer) Nachfolger angeknüpft haben. Das idealistische wird in der 1. Auflage seiner Kritik, wo es ihm vornehmlich darum zu thun ist, gegen Hume die Theorie einer allgemeingültigen und notwendigen Erfahrung durchzusetzen, das realistische dagegen in der 2. Auflage betont, wo es ihm darum zu thun ist, sich von dem Verdacht eines das Sein überhaupt aufhebenden Idealismus (wie der Berkeleys) zu reinigen. Die positive Seite der Kritik der reinen Vernunft ist nur der Aufdeckung der apriorischen Elemente des Erkenntnisvermögens gewidmet, welcher er später in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft die Aufdeckung des im Begehrungs- und (nach Wolfscher Terminologie) Gefühlsvermögen enthaltenen a priori folgen ließ. Seine Absicht war dabei, ein "Inventarium" dessen zu liefern, was (jederzeit und von jedermann) mit Allgemeinheit und Notwendigkeit (theoretisch) erkannt, (praktisch) gewollt und (ästhetisch) wohlgefällig und mißfällig empfunden wird. Zu diesem Zweck werden in der Kritik der reinen Vernunft die drei Teile des Erkenntnisvermögens (nach Wolfscher Terminologie): niederes und höheres oder: Sinn, Verstand, Vernunft, nacheinander vorgenommen und auf die apriorischen Bestandteile, welche in denselben enthalten sein mögen, geprüft. Da zeigt es sich nun, daß beide letztern zwar durchaus apriorisch sind, aber (mit Ausnahme des Daseins des Dinges an sich) von außerhalb des Kreises der sinnlichen Erscheinung gelegenen Dingen keine Erkenntnis gewähren; ferner, daß der Sinn zwar allgemeine und notwendige Erkenntnis gewährt, aber nur, weil und soweit auch in ihm "apriorische" (also nicht aus der Erfahrung, sondern aus dem transzendentalen Subjekt stammende) Elemente enthalten sind.

Als solche wurden von K. die sogen. reinen Anschauungsformen des Raums (das Neben-) und der Zeit (das Nacheinander) bezeichnet. Mittels derselben werden vom wahrnehmenden Subjekt räumliche und zeitliche Anordnung in das Chaos sinnlicher Empfindungen (des Auges, des Ohres etc., welche zusammen die "Materie" unsrer Erfahrung ausmachen) "hineingeschaut" und dieses dadurch in eine Welt räumlich und zeitlich verbundener und geschiedener Erscheinungen verwandelt. Letztere machen daher das eigentliche Objekt des Sinnes, den Gegenstand des sinnlichen Anschauungsvermögens, aus, und durch die auf diesem Wege gewonnenen sinnlichen Anschauungen wird dem sonst ganz leeren Verstand Stoff zu weiterer Verarbeitung geliefert. Dieses sinnliche Anschauen als Funktion des Sinnes ist zugleich auch diejenige, welche sinnliche Erkenntnis durch synthetisch-aposteriorische Urteile möglich macht, indem sie die zur Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt nötige sinnliche Anschauung liefert. Das reine Anschauen, diejenige Funktion des Sinnes, durch welche das "Hineinschauen" der Räumlichkeit und Zeitlichkeit in die Empfindungswelt vollzogen wird, dagegen ist diejenige, welche mathematische Erkenntnis durch synthetisch-apriorische Urteile möglich macht, indem sie die zur Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt nötige Anschauung, welche hier, wo es sich um nichtsinnenfällige Objekte handelt, keine sinnliche sein darf, liefert. Eine solche ist die sogen. reine Anschauung des Raumes, welche die Evidenz der geometrischen, und jene der Zeit, welche die Evidenz der arithmetischen Erkenntnisse vermittelt. Demjenigen Abschnitt der Kritik, in welchem es sich um die Entdeckung der apriorischen Elemente der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) handelt, hat K. deshalb den Namen: "transzendentale Ästhetik" gegeben. Die nächste Folge aus dieser von K. behaupteten "Idealität" von Raum und Zeit ist nun die, daß beide, als bloße Anschauungsformen des (transzendentalen) Subjekts, auf das, was unabhängig von diesem ist, das Ding an sich, keine Anwendung finden können und sich daher nichts, was auf Räumlichkeit und Zeitlichkeit bezüglich ist (z. B. Grenzen im Raum, Anfang in der Zeit), von diesem behaupten oder leugnen läßt. Unsre gesamte Erkenntnis bleibt auf die Erscheinungswelt (phaenomenon im Gegensatz zur "intelligibeln", noumenon, unter welcher das Ding an sich verstanden wird) beschränkt, deren räumliche sowohl als zeitliche Ausdehnung und Gestaltung eben erst durch die Thätigkeit des räumlichen und zeitlichen Anschauens zu stande kommt. Wie letztere beiden die apriorischen Funktionen des Sinnes, so stellen zwölf ursprüngliche Urteilsformen die ebensolchen des Verstandes und drei ursprüngliche Schlußformen diejenigen der (theoretischen) Vernunft dar. Wie durch die erstgenannten die unverbundenen Sinnesempfindungen räumlich und zeitlich zu Anschauungen, so werden durch die verschiedenen Verstandesfunktionen die unverbundenen Sinnesvorstellungen in ebenso vielfacher Weise zu Begriffen und durch die verschiedenen Schlußfunktionen die unverbundenen Verstandesbegriffe in ebenso vielfacher Weise zur Einheit, zu Ideen zusammengefaßt. Jeder der beiden apriorischen Sinnesfunktionen entspricht daher eine reine Anschauungsform, jeder der zwölf apriorischen Verstandesfunktionen ein reiner Verstandesbegriff (Stammbegriff, Kategorie), jeder der drei apriorischen Vernunftfunktionen eine reine Vernunftidee. Als erstere zählt K. Raum und Zeit auf; als Kategorien: Allheit, Vielheit, Einheit, welche der Quantität, Position, Negation, Limitation, welche der Qualität, Substanz und Inhärenz, Kausalität, Wechselwirkung, welche der Relation, Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit, welche der Modalität unterstehen; als Ideen: die der Seele, welche der kategorischen, der Welt, welche der hypothetischen, der Gottheit, welche der disjunktiven Schlußform entsprechen. Die Deduktion der Kategorien als apriorischer Verstandes- und die der Ideen als apriorischer Vernunftfunktionen bildet zusammen die transzendentale Logik, die wieder in die transzendentale Analytik (Verstandes-) und transzendentale Dialektik (Vernunftlehre) zerfällt. Die Ideen der letztern ("transzendentale Vernunftideen") haben nur regulative, nicht konstitutive Bedeutung, da jeder Versuch, ihnen eine solche beizulegen, auf unlösbare Schwierigkeiten stößt. Der Schluß von der Idee der Seele auf deren Existenz ist ein "zwar unvermeidlicher", aber nichtsdestoweniger ein Fehlschluß ("Paralogismus der reinen Vernunft"). Der Versuch, der Idee der Welt Realität beizulegen, führt unter jedem der vier möglichen Hauptgesichtspunkte auf eine Antinomie, d. h. auf ein Paar einander ausschließender Gegensätze, von denen jeder sich mit gleich guten Gründen bejahen und verneinen läßt, z. B.: die Welt hat einen Anfang in der Zeit und Grenzen im Raum, und: sie hat beides nicht. Die für die Realität der Gottesidee möglichen oder doch wenigstens bisher versuchten Beweise: der ontologische, kosmologische und