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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kant

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Kant (Kants Philosophie; Gegner, Anhänger).

physiko-teleologische, sind sämtlich irrig, da sich weder aus dem "Gedanken" des allerrealsten Wesens dessen "Sein herausklauben", noch aus der unendlichen Reihe von Ursachen auf eine erste Ursache oder von der Zweckmäßigkeit des kleinen überschaubaren Teils des Weltgebäudes auf dessen Zweckmäßigkeit im Ganzen mit Sicherheit schließen läßt. Dieses Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft, welches von der gesamten Welt der sinnlichen und übersinnlichen Dinge als der Erkenntnis zugängliches Objekt nur das raum- und zeitlose Ding an sich und auch dieses nur nach seiner (durch den, wie Fichte zeigte, inkonsequenten Schluß von der Wirkung auf die Ursache verbürgten) Existenz, nicht nach seiner (uns gänzlich unbekannt bleibenden) Qualität übrigläßt, ist es, welches K. bei seinen Zeitgenossen den Beinamen des "Alleszermalmers" verschafft hat. In seinen spätern Schriften (schon in der "Kritik der praktischen Vernunft") hat er dies, besonders was die Gegenstände der sogen. natürlichen Religion betrifft, teilweise durch die von ihm erfundene "Postulierungsmethode" wieder gutzumachen gesucht. Wie die Kritik der reinen Vernunft auf die Entdeckung des a priori im Erkenntnis-, so geht die der praktischen auf die Auffindung des a priori im Begehrungsvermögen aus. Wie ohne Allgemeinheit und Notwendigkeit kein wirkliches Wissen, so ist ohne Allgemeingültigkeit kein wirklich tugendhaft zu nennendes Wollen möglich. Das Wollen, welches als gut allgemein anerkannt werden soll, muß daher von der Beschaffenheit sein, daß seine Maxime fähig ist, ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz aufgestellt zu werden. Daraus erhellt, daß die Lust oder der eigne Vorteil niemals als Prinzip einer Sittenlehre gelten kann, weil sowohl jene als dieser nur individuelle Geltung besitzen. K. verwirft praktisch den Eudämonismus aus demselben Gesichtspunkt, aus welchem er theoretisch den Skeptizismus bestreitet. Wie nicht der Inhalt, sondern die Form der Erfahrung (ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit) entscheidet, ob sie als solche wahr sei, so entscheidet nicht der Inhalt, sondern die Form (die Allgemeingültigkeit der Maxime) des Wollens, ob es als solches gut sei. Das sittliche Wollen schließt jedes andre Motiv als die erkannte Pflichtmäßigkeit aus; der kategorische Imperativ, wie K. die Forderung des Sittengesetzes bezeichnete, ist unbedingt, ein Sollen, das von jeder Rücksicht auf Sein oder Seinkönnen unabhängig ist.

Durch diese Reinheit der sittlichen Triebfedern, dem von Frankreich aus eingedrungenen Eudämonismus und Hedonismus gegenüber, hat K. reinigend und erhebend auf seine Zeitgenossen und Nachkommen gewirkt. Seine Abneigung gegen die Glückseligkeit als Beweggrund der Sittlichkeit war so groß, daß selbst Schiller fand, Kants Rigorismus "schrecke die Grazien zurück". Geschieht eine Handlung zwar dem Gesetz gemäß, aber nicht rein um des Gesetzes willen, so ist bloße Legalität, nicht Moralität vorhanden. Als höchstes Gut, nach welchem der Mensch strebt oder streben soll, ist Tugend und Glückseligkeit, in höchster Potenz und innigster Kausalverbindung gefaßt, zu betrachten. Da nun die sinnliche Welt weder die Tugend in ihrer Vollendung, noch die Glückseligkeit in ihrer höchsten Potenz gewährt, noch auch beide hier immer verbunden vorkommen, so macht die praktische Vernunft folgende Postulate: Zur Erreichung der höchsten Tugend wird die Unsterblichkeit gefordert, zur Verwirklichung der Verbindung der höchsten Glückseligkeit mit der vollendetsten Tugend, d. h. zur Realisierung des höchsten Gutes, aber ist das Dasein Gottes notwendige Bedingung. Wenn also das höchste Gut verwirklicht werden soll, so muß die Unsterblichkeit der Seele und mit ihr ein unendliches Fortschreiten zu höherer Vollendung und Heiligkeit vorausgesetzt werden; es muß ferner ein Wesen geben, das die gemeinsame Ursache der natürlichen und sittlichen Welt ist und Tugend und Glückseligkeit in ein entsprechendes Verhältnis zu setzen vermag, das demnach auch unsre Gesinnungen kennt, absolute Intelligenz besitzt und nach dieser Intelligenz uns die Glückseligkeit zuteilt. Ein solches Wesen ist aber Gott. So entwickeln sich aus der praktischen Vernunft nicht nur die Idee der Unsterblichkeit und die Idee Gottes, sondern auch die Idee der Freiheit. Diese leitet ihre Realität ab aus der Möglichkeit des moralischen Gesetzes überhaupt; die Idee der Unsterblichkeit entlehnt ihre Realität aus der Möglichkeit der vollendeten Tugend, die Idee Gottes aus der notwendigen Forderung vollendeter Glückseligkeit. Diese drei Ideen, unlösbare Aufgaben für die theoretische, gewinnen Boden im Gebiet der praktischen Vernunft. Auch jetzt aber sind sie nicht theoretische Dogmen, sondern praktische Postulate, notwendige Voraussetzungen des sittlichen Handelns. Diesen Ansichten entsprechen auch die Grundsätze über Religion, welche K. in der Schrift "Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft" niedergelegt hat. Der Grundgedanke ist hier die Zurückführung der Religion auf Moral. Je reifer die Vernunft wird, je mehr sie den moralischen Sinn für sich festhalten kann, um so entbehrlicher werden die statutarischen Satzungen des Kirchenglaubens. Wie die beiden vorangegangenen Kritiken die apriorischen Elemente des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens, so deckte die dritte, die Kritik der Urteilskraft, jene des Mittelglieds zwischen beiden, des Gefühlsvermögens oder, wie K. es nennt, der Urteilskraft, auf. Gegenstand dieser letztern ist der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur und zwar sowohl der ästhetischen als der teleologischen Zweckmäßigkeit. Die ästhetische Zweckmäßigkeit, welche die Dinge subjektiv für uns haben, entfaltet sich in den Begriffen des Schönen und des Erhabenen; die teleologische Zweckmäßigkeit bezieht sich auf das Verhältnis der Dinge unter sich und ist entweder eine äußere und zufällige oder eine innere, in dem Organismus des Dinges bedingte und notwendige. Ob der Natur an und für sich innere Zweckmäßigkeit zukomme oder nicht, können wir nicht bestimmen; wir behaupten nur, daß unsre Urteilskraft die Natur als zweckmäßig ansehen müsse. Wir schauen den Zweckbegriff in die Natur hinein, indem wir gänzlich dahingestellt sein lassen, ob nicht vielleicht ein andrer Verstand, der nicht denkt wie der unsrige, zum Verständnis der Natur den Zweckbegriff gar nicht nötig hat. Gäbe es einen Verstand, welcher im Allgemeinen das Besondere, im Ganzen die Teile mit Bestimmtheit erkennen könnte, so würde ein solcher die ganze Natur aus einem Prinzip begreifen, den Begriff des Zweckes nicht brauchen.

Kants Hauptwerk blieb einige Jahre hindurch ziemlich unbeachtet, bis die ebenso klar wie anziehend geschriebenen "Briefe über die Kantsche Philosophie" von Reinhold (s. d.), welche zuerst (seit 1786) in Wielands "Deutschem Merkur" erschienen, die Denker- und Leserwelt für den Verfasser gewannen. Als Gegner Kants traten auf die Popularphilosophen Feder, Garve, Tiedemann, der Wolfianer Eberhard, Herder, dessen "Metakritik" (Leipz. 1799) und "Kalligone" (Berl. 1800) weniger Beachtung fanden, als sie verdienten, der "Glaubensphilosoph" Jacobi und der Skeptiker G. E. Schulze ("Änesidemus", Helmst. 1792), Sal. Maimon, Beck, Bardili u. a. Als An-^[folgende Seite]