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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenstaat

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Kirchenstaat (1859-1870).

erstern Stadt die sämtlichen Legationen ihren Abfall von der päpstlichen Regierung und ihre Unterwerfung unter Viktor Emanuel als Diktator erklärten. Letzterer lehnte zwar die Diktatur ab, ernannte jedoch einen außerordentlichen Kommissar für die aufständischen Provinzen des Kirchenstaats. Dieser setzte eine provisorische Regierung (zu Bologna) in den Legationen ein, welche Garibaldi zum Befehlshaber der Truppen wählte und Wahlen zu einer Nationalversammlung ausschrieb. Am 1. Sept. trat dieselbe zusammen und beschloß einstimmig die Vereinigung der Legationen mit dem Königreich Sardinien. Infolge eines Bündnisses, das die provisorische Regierung mit Toscana, Modena und Parma abgeschlossen hatte, rückte zum Schutz gegen päpstliche Truppen toscanisches Militär in Bologna ein. Am 11. und 12. März 1860 stimmte die Bevölkerung der Legationen durch allgemeines Plebiszit für die Einverleibung in Sardinien, worauf 28. März sardinische Truppen in Bologna einrückten. Napoleon III. versuchte noch, eine friedliche Vereinbarung zwischen Sardinien und dem Papst zu vermitteln, um diesem den Rest des Kirchenstaats zu sichern; aber inzwischen hatten die Ereignisse in Süditalien die Sachlage gänzlich verändert. Garibaldi hatte Sizilien und Neapel in der Absicht erobert, sie mit der Monarchie Viktor Emanuels zu vereinigen; dieser aber konnte sie nicht wohl annehmen, ohne auch die Marken und Umbrien, die dazwischen lagen, dem Papst noch zu entreißen, zugleich mußte Napoleon zu verhüten suchen, daß Garibaldi nicht seinen Eroberungszug auch auf Rom ausdehne. Viktor Emanuel und Napoleon verständigten sich daher Ende August dahin, daß Sardinien freie Hand haben solle, die Marken und Umbrien zu nehmen, wenn es nur Rom selbst und das sogen. Patrimonium Petri, das die Franzosen besetzt halten sollten, unangetastet lasse. Der Papst hatte seine Armee durch Werbungen im Ausland verstärkt und den französischen General Lamoricière zu ihrem Befehlshaber ernannt. Nachdem schon in Sinigaglia, Urbino u. a. O. Insurrektionen ausgebrochen waren, rückten 11. Sept. sardinische Truppen unter den Generalen Fanti und Cialdini in den K. ein, besetzten Umbrien und die Marken und schnitten Lamoricière von Ancona ab. Nun erst brach letzterer von Macerata auf und griff Cialdini trotz der Übermacht 18. Sept. bei Castelfidardo an. Die Schlacht war kurz, wiewohl auf beiden Seiten tapfer gefochten wurde; der päpstliche General Pimodan fiel an der Spitze seiner Truppen, diese wurden geschlagen, und Lamoricière gelangte nur mit wenigen Begleitern durch die Engpässe nach Ancona. An demselben Tag war auch die sardinische Flotte unter dem Admiral Persano vor Ancona angelangt; Cialdini rückte am folgenden Tag nach, und die Festung wurde vom 19. Sept. an zu Wasser und zu Land belagert. Schon 29. Sept. ergab sie sich; Lamoricière und die ganze Besatzung fielen in Kriegsgefangenschaft.

Nun verblieb dem Papst nur noch das sogenannte Patrimonium Petri, welches die Bajonette der französischen Okkupationstruppen unter seiner Botmäßigkeit erhielten. Die nationale Partei in Italien forderte Rom als die natürliche Hauptstadt der geeinigten Halbinsel und gab diesem Verlangen im März 1861 sogar in dem italienischen Parlament einen Ausdruck. Im Herbst 1862 schien die römische Frage einer endlichen Lösung entgegenzugehen: Garibaldi führte von Süden aus ein Freiwilligenheer wider Rom. Allein in dem öden Höhenzug des Aspromonte traten ihm die Truppen des Königs von Italien unter Pallavicini entgegen, und der 29. Aug. machte seinem Beginnen ein rasches Ende. Am 15. Sept. 1864 schlossen Frankreich und Italien eine Konvention, welche die vollständige Räumung des Kirchenstaats von seiten der Franzosen innerhalb zwei Jahre in Aussicht stellte; in der That war sie im Dezember 1866 vollendet. Sofort bereitete die italienische Aktionspartei unter Garibaldi, vom Minister Rattazzi heimlich ermuntert, einen neuen Freischarenzug gegen Rom vor. Zwar wurde Garibaldi 23. Sept. 1867 an der Grenze des Kirchenstaats, bei Asinalungo ^[richtig: Asinalunga], mit seinen wenigen Begleitern auf Befehl Viktor Emanuels verhaftet, nach Genua und von hier nach Caprera gebracht, wo ihn italienische Kreuzer scharf im Auge behalten sollten. Unterdessen aber strömten von verschiedenen Seiten Freischaren nach dem K., und Menotti Garibaldi stellte sich an die Spitze der Bewegung. Schon näherten sich die Insurgentenscharen Rom, und Garibaldi, der auf einer Barke aus Caprera entkommen war, erschien in ihrer Mitte. Da landete ein neues französisches Observationskorps, und die italienische Regierung ließ ihre Truppen in das päpstliche Gebiet einrücken. An der Aktion nahmen letztere indes keinen Anteil, sondern waren thatenlose Zuschauer, als die durch Franzosen verstärkten Päpstlichen Garibaldi 3. Nov. die entscheidende Niederlage bei Mentana beibrachten. Auf dem Rückzug ward Garibaldi von den Italienern entwaffnet und gefangen genommen. Die italienischen Truppen verließen alsbald den K. wieder; auch die französische Regierung zog nach kurzem ihre Truppen aus Rom und konzentrierte dieselben um Civitavecchia. Unter ihrem Schutz suchte die päpstliche Regierung durch scharfe Strafen gegen die Aufständischen und durch ein strenges Polizeiregiment ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten. Die Finanzlage des nunmehr verkleinerten Staats wurde von Jahr zu Jahr schlechter. 1868 stand einer Ausgabe von 74 Mill. Frank nur eine Einnahme von 29 Mill. gegenüber, bei einer Schuldenlast von 100 Mill.

Beim Beginn des deutsch-französischen Kriegs 1870 fiel Rom und der Rest des Kirchenstaats der italienischen Regierung als reife Frucht in den Schoß. Am 28. Juli erhielten die französischen Truppen Befehl, sich zur Einschiffung nach Frankreich bereit zu halten; Anfang August wurden sie nach und nach weggezogen, und päpstliche Truppen besetzten die von ihnen verlassenen Plätze. Viktor Emanuel verlangte Anfang September vom Papste die Genehmigung zu einer Okkupation des Kirchenstaats durch italienische Truppen als für die Sicherheit Italiens wie des Papstes selbst erforderlich. Der Papst lehnte jedoch 11. Sept. jede gütliche Vereinbarung ab. Der König ließ noch an demselben Tag seine Truppen über die Grenze rücken und zwar in solcher Stärke, daß die päpstlichen Truppen sich überall mit Ehren, den erhaltenen Befehlen gemäß, zurückziehen konnten. Am 16. Sept. ward der militärisch wichtigste Punkt im K., Civitavecchia, von den Italienern besetzt, und am 19. kamen sie unter General Cadorna vor den Thoren Roms an. Der Papst erteilte seinem General Kanzler den Befehl, nur des Protestes halber Widerstand zu leisten; sobald Bresche in die Mauer gelegt sei, sollte die Unterhandlung betreffs der Übergabe begonnen werden. Am 20. Sept. legte die italienische Artillerie nahe der Porta Pia Bresche in die Stadtmauer, und die Infanterie schickte sich zum Sturm an. Deshalb gab General Kanzler den Widerstand auf, und die Italiener zogen an demselben Tag ein. Der leoninische Stadtteil ward 22. Sept. besetzt. Der Papst war