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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kretinismus

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Kretinismus (Merkmale, Verbreitung).

ohne Ausdruck, und das ganze Gesicht hat schon von Jugend auf ein greisenhaftes Aussehen. Die Zähne sind fast immer lückenhaft, unregelmäßig eingepflanzt und kariös; ihre Entwickelung verspätet sich in den meisten Fällen. Der Hals ist kurz und dick und trägt einen bald mehr, bald weniger entwickelten Kropf. Im allgemeinen charakterisiert sich der Körperbau der Kretins durch den Mangel der Symmetrie und Proportionalität der verschiedenen Körperteile und durch das gänzliche Fehlen von Harmonie in seinen Formen (s. Abbildung, nach einem Bild in Virchows "Gesammelten Abhandlungen"). Die Funktionen dieses abnormen Organismus gehen stumpf und träge von statten. Die Bewegungen sind langsam und unsicher; die Arme hängen schlaff herab; der Gang ist schleppend und wackelnd, zuweilen ganz unmöglich. Die Sinnesorgane sind stumpf, ihre Wahrnehmungen, wenn überhaupt welche vorhanden sind, unvollkommen. Die geschlechtliche Entwickelung verspätet sich meist sehr bedeutend. Vollkommene Kretins haben keinen Geschlechtstrieb und sind nicht zeugungsfähig; Halbkretins und Kretinöse dagegen zeigen nicht selten eine starke geschlechtliche Erregung und sind auch zeugungsfähig. Geistige Fähigkeiten mangeln den vollständigen Kretins gänzlich. Es geht ihnen selbst der Instinkt der Selbsterhaltung ab; man muß sie wie kleine Kinder füttern (wobei sie unterschiedslos verschlucken, was man ihnen gibt) und reinlich halten. (Vgl. hierüber Idiotie.)

Nach den Untersuchungen Virchows ist die Schädelform der Kretins im wesentlichen bedingt durch eine vorzeitige Verknöcherung der die einzelnen Teile des Schädelgrundbeins trennenden Knorpel und durch die so entstandene Verkürzung der Schädelbasis. Die neuern Untersuchungen von Klebs ergeben nun, daß diese vorzeitige Verwachsung der Knochen der Schädelbasis nur eine Teilerscheinung eines über das ganze Skelett verbreiteten pathologischen Vorganges ist, welcher darin besteht, daß die Wucherung der Knorpelelemente, welche normalerweise der Verknöcherung vorausgeht, nicht stattfindet. Demgemäß ist der K. als eine eigentümliche Ernährungsstörung des wachsenden Organismus aufzufassen, welche sich charakterisiert durch ein vorzeitiges Aufhören der Knochenbildung und durch eine dieser allgemeinen Hemmung des Längenwachstums der Knochen gegenüberstehende übermäßige Entwickelung der Weichteile, namentlich der äußern Haut, der Schleimhäute des Mundes, des Rachens und der Zunge, vielleicht auch des Gehirns. Der K. im weitern Sinn, als Endemie betrachtet, macht sich nicht bloß bei den im engern Sinn kretinistisch gestalteten Individuen bemerklich, sondern die ganze Bevölkerung an den befallenen Orten zeigt sich von der Krankheitsursache betroffen. Außer den eigentlichen Kretins, Halbkretins und Kretinösen findet sich eine Menge kropfiger, schwachköpfiger, verkümmerter und schlecht proportionierter Individuen, Taubstummer, Stotterer und Stammler, Schwerhöriger, Schielender; es geht ein allgemeiner Zug körperlicher Degeneration und geistiger Verdumpfung durch die ganze eingeborne Bevölkerung, und auch die für gesund und klug geltenden Individuen sind durchschnittlich unschön, beschränkt und träge. Besonders hervorzuheben ist das Verhältnis des K. zum Kropf. Der K. kommt nie vor, ohne daß auch der Kropf endemisch ist, so daß man den letztern als den geringern Grad der Einwirkung derselben Ursache ansehen kann, welche den erstern erzeugt. Abgesehen davon, daß die meisten Kretins sehr bedeutende Kröpfe haben, bringen Eltern mit Kröpfen häufiger und vollkommnere Kretins zur Welt als solche ohne Kröpfe. Gesunde erwachsene Personen, welche in Kretingegenden einwandern, werden von Kröpfen befallen; ja, selbst die Tiere (Pferde, Hunde) leiden in solchen Gegenden am Kropf. Nach Morel ist der in den befallenen Gegenden endemische Kropf nur das äußerliche Merkmal einer schweren Erkrankung des ganzen Organismus (Kropfkachexie), und diese Erkrankung hat bei der Deszendenz der davon betroffenen Personen den K. zur Folge. Sollte diese Auffassung, welche den anderweitigen Ansichten Morels über die fortschreitende Degeneration bei Nerven- und Geisteskrankheiten entspricht, auch nicht stichhaltig sein, so ist jedenfalls die innige Verbindung zwischen dem endemisch vorkommenden Kropf und dem K. sicher konstatiert ("Le goître est le père du crétinisme", Fabre).

Was nun die Verbreitung des Kropfes und des K. betrifft, so finden sich derartige Krankheitsherde in allen Erdteilen, hauptsächlich innerhalb der großen Gebirgsstöcke und ihrer Ausläufer. In Europa sind besonders heimgesucht die Schweiz (Wallis, Graubünden, Uri, Waadt etc.), Frankreich (Savoyen, Pyrenäen und die Gebirge der Auvergne), Österreich (Salzburg, Böhmen, Steiermark, Tirol, Kärnten und Oberösterreich), weniger Deutschland (Unter- und Mittelfranken, manche Gegenden Württembergs und Badens, einige Orte des Rheinthals bei Straßburg und auf der Insel Niederwörth, auch Thüringen). Überall sind es nicht die eigentlichen Hochgebirge, wo sich die Endemien eingenistet haben, ebensowenig die frei liegenden Abdachungen, sondern meist im

^[Abb.: Kretine.]