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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Medizin

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Medizin (im 15.-17. Jahrhundert).

weibliche Leichname zergliederte und damit die Anatomie in die Reihe der Universitätsstudien einführte.

Eine neue Epoche in der Geschichte der Heilkunde beginnt mit dem Umschwung, welcher in fast allen Wissenschaften und Künsten unter Vermittelung der Reformation und der Erfindung der Buchdruckerkunst sowie des erwachenden kritischen Geistes sich vollzog. Es begann die Naturbeobachtung wieder in ihr Recht zu treten und sich von den Fesseln der Scholastik, wenn auch langsam und allmählich, zu lösen. Vor allem war es die Wiederbelebung, man kann fast sagen die Wiederentdeckung der Anatomie und die von nun an rastlos fortschreitende Ausbildung dieser Wissenschaft, welche den Boden ebnete. Sylvius, Vesalius, zu dessen berühmtem Werk über den Bau des menschlichen Körpers vielleicht Tizian selbst, sicher aber sein Schüler Johann von Kalkar die Zeichnungen fertigte, Fallopia (gest. 1562), Eustachio (gest. 1579) wurden die Begründer unsrer heutigen Anatomie. Auch die Geburtshilfe blühte zu dieser Zeit auf; zu Anfang des 16. Jahrh. (1513) schrieb Eucharius Rößlein (Rhodion), Arzt zu Worms und Frankfurt, "Der schwangern Frauen Rosengarten", ein aus ältern Schriften kompiliertes, aber mit deutscher Sinnigkeit verfaßtes Hebammenbuch, das aller Mangelhaftigkeit ungeachtet lange Zeit im Gebrauch blieb. In dieser Zeit kam auch zuerst die gerichtliche M. auf, die aber erst später weitere Ausbildung fand.

Der skeptisch-kritische Ton wurde dem herrschenden Galenischen und arabischen System gegenüber besonders durch Theophrastus Bombastus Paracelsus (gest. 1554) angeschlagen, welcher der Heilkunde eine ideale Richtung erteilte und die schon längst wankenden Pfeiler der Herrschaft Galenos' vollends niederriß. Seine Erscheinung bezeichnet die eigentliche Grenzscheide des Mittelalters und den Anbruch der für die Heilkunde lange schon vorbereiteten neuen Zeit. Der Grundgedanke dieses Mannes ist die Auffassung der Natur als eines großen lebendigen Ganzen, in welchem weder Stillstand noch Tod, sondern stets fortschreitende, durch ein inneres Prinzip bedingte organische Entwickelung besteht. Demgemäß gilt ihm die Krankheit als ein lebendiges Wesen, als eine parasitische Pflanze mit einem selbständigen, individuellen Lebensprozeß, der im Schoß eines andern, höhern sich bilde. Die Heilung erschien ihm als ein aus dem gesunden Leben entsprungener, spezifisch individueller Vorgang, den die Natur und öfters die Kunst hervorrufe, um die Krankheit dadurch zu bekämpfen. Die wahren Heilmittel (arcana) sind ihm daher samenähnliche Wesen, aus denen im Schoß des Organismus eine neue individuelle Lebensentwickelung behufs der Überwältigung der krankhaften hervorgehe. Auch Laien begannen unter Paracelsischem Schild sich mit einer mystischen M. zu befassen, und die Heilkunst ward wieder völlig in das Gebiet der Mystik entrückt, als die Gesellschaft der Rosenkreuzer (s. d.) den Namen des Paracelsus zu ihrem Losungswort erhob. Als Verteidiger der alten Schule gegen die Paracelsischen Neuerungen trat mit besonderm Erfolg Andr. Libavius aus Halle auf, dessen chemische Arbeiten das Irrige und Phantastische in vielen Paracelsischen Behauptungen bloßstellten. Sein Verdienst ist es, daß von nun an die Chemie immer größern Einfluß auf die Heilkunde gewann, die spagirische M. und die spagirischen Mittel der Paracelsisten sich ihrer geheimnisvollen Hüllen mehr und mehr entäußerten und zu ihrer wissenschaftlichern Schätzung und Gewinnung die Bahn gebrochen ward. Unter den großen Philosophen des 17. Jahrh. haben vornehmlich Baco von Verulam und Descartes, die beiden Hauptwortführer der Erfahrung und Spekulation, den entschiedensten Einfluß auf die Heilkunde ausgeübt. Namentlich bot letzterer durch seine Korpuskularlehre den dogmatischen Bestrebungen der Ärzte einen willkommenen Stoff dar, während der Einfluß des erstern erst später die starre Einseitigkeit der Schule überwinden half. Ehe dies aber geschah, führte der Dogmatismus in der M. noch das Zepter, indem er sich in zwei Schulen, die chemiatrische und iatromathematische, teilte. Die chemiatrische Schule schloß sich zum Teil den Lehren des Paracelsus an, und es ging daraus hervor, daß man die Chemie nicht bloß zur Bereitung der Arzneien, sondern auch zur Erklärung des organischen Lebens mehr und mehr zu Rate gezogen wissen wollte. Schon zu Anfang des 17. Jahrh. wurden auf den Universitäten eigne Lehrstühle der "Chymiatria" errichtet. Diese Chemiatrie bestand aber lediglich in der Darstellung und Anwendung der neuen mineralischen Arzneimittel, von denen nach und nach zweckmäßigere Formen und Zusammensetzungen bekannt wurden. Eine andre und zwar spiritualistische Gestaltung erhielt die Chemiatrie durch van Helmont (gest. 1644), welcher Mystik und Naturforschung miteinander zu verbinden strebte und als Hauptgedanken die Beseelung der ganzen Natur durch geistige Schöpfungskräfte aufstellte. An der Spitze dieser Kräfte stand ihm der Archeus oder das schaffende Prinzip der Natur, und seine Therapie zielte auf Beruhigung und Zurechtleitung des erzürnten oder verirrten Archeus hin, wozu er geistige Einwirkungen und Arkana, aber auch Wein, Opium, Spießglanz- und Quecksilbermittel benutzte.

Die zweite Schule des Dogmatismus, die iatromathematische oder iatromechanische, suchte das Leben aus den Gesetzen der Statik und Hydraulik zu begreifen und wollte die M. als einen Teil der angewandten Mathematik und mechanischen Physik angesehen und behandelt wissen. Indem wir aus der Enge dieser Schulen auf das große offene Feld der Erfahrung heraustreten, begegnen uns zunächst die glänzenden Namen eines Harvey und Sydenham. William Harvey (1578-1657) machte die große Entdeckung vom Kreislauf des Bluts, verkündigte das omne vivum ex ovo gegen die Anhänger der Generatio aequivoca und ward dadurch der wahre Schöpfer der neuern Physiologie. Die Anatomie erfreute sich in diesem Jahrhundert besonders eifriger Bearbeitung, und namentlich trug die Verbesserung der Mikroskope mächtig dazu bei, "die Verhältnisse im kleinsten Raum aufzuschließen", was zunächst durch Malpighi und Leeuwenhoek geschah. Unter den Krankheiten des 17. Jahrh. nehmen einen Hauptplatz die Seuchen ein, welche durch Krieg, Hungersnot, Elend aller Art und durch ungewöhnliche kosmische und tellurische Einflüsse begünstigt wurden. Von chronischen Krankheiten lernte man die Rhachitis kennen, deren erste Erscheinung in das Jahr 1630 fällt; auch der Kretinismus in den Alpenthälern regte zuerst die Aufmerksamkeit der Ärzte an. Der größere Verkehr mit entfernten Weltteilen vermehrte die Erfahrungen über den klimatischen Unterschied der Krankheiten, und auch der Beobachtung der Epidemien und der epidemischen Konstitution wurde größere Aufmerksamkeit zugewendet, nach dem Vorgang Thomas Sydenhams (1624-89), der, die Idee des Lebens in ihrer ganzen Reinheit fassend; die dem Leben entfremdete Heilkunde wieder auf den Weg der Natur leitete. Die Heilkunde des beginnenden 18. Jahrh. fand ihre beiden größten Koryphäen, Stahl und Hoffmann, auf