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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Parlament

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Parlament.

mengesetzt, unter den letzten Stuarts und während der englischen Revolution eine herrschende Rolle gespielt hatte. Die Verschmelzung mit dem irischen P. erfolgte 1. Jan. 1801; dasselbe, seit dem 13. Jahrh. nachweisbar und seit 1399 auch die Gemeinen umfassend, war indes seit der Reformation keine Vertretung des irischen Volkes, da 1641 alle Verweigerer des Suprematseids ausgeschlossen und 1729 den Katholiken auch das aktive Wahlrecht genommen wurde.

Während zur Zeit der ersten Revolution sich die Parteien der Kavaliere und Rundköpfe, während der Restauration (seit 1660) Royalisten und Presbyterianer im englischen P. gegenübergestanden hatten, kamen seit 1680 die Parteinamen Tories und Whigs auf. Beide standen auf dem Boden der Verfassung, die Tories betonten aber vorzugsweise die Anhänglichkeit an die bestehende Gewalt in Staat und Kirche, die Whigs die Unverletzlichkeit der Verfassungsrechte und das Recht des Widerstandes gegen verfassungswidrige Eingriffe der Krone. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. traten an die Stelle dieser Parteinamen die der Konservativen und Liberalen, neben denen sich noch eine radikale Partei bildete und die Iren eine besondere Rolle spielten. Zwischen der herrschenden Mehrheit des Unterhauses und dem Ministerium, von dem die hervorragendsten Mitglieder, namentlich der Schatzkanzler, in der Regel Mitglieder des Parlaments sind, muß Übereinstimmung bestehen, und das Ministerium muß, wenn sich die Mehrheit im P. gegen dasselbe erklärt, zurücktreten, um Männern der neuen Majorität Platz zu machen.

Die Zusammensetzung des Unterhauses war bis in das 19. Jahrh. derart, daß es kaum als eine Vertretung des Volkes angesehen werden konnte. Die Katholiken waren vom Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ausgeschlossen; viele in neuerer Zeit zu Größe und Bedeutung herangewachsene Städte entbehrten des Wahlrechts, während viele von den Burgflecken (rotten boroughs), denen es zustand, kleinere Ortschaften waren; von 75 hatte keiner 50 Wähler. In 125 Flecken übten 89 Mitglieder des Oberhauses und in weitern 70 andre Personen das Patronat. Bei der kleinen Anzahl von Wählern hatte sich die Wahlbestechung zu einem System entwickelt. Durch die Zulassung der Katholiken (1829) und die Reformbills von 1832, 1867 und 1884 wurde diesen Übelständen im wesentlichen abgeholfen. Die Vorrechte der Burgflecken wurden beseitigt, durch Ermäßigung des Zensus, der nicht ganz abgeschafft wurde, die Zahl der Wähler auf 5¾ Mill. erhöht, die Zahl der Mitglieder auf 670 festgesetzt und eine neue Einteilung der Wahlkreise nach der Einwohnerzahl vorgenommen (s. Großbritannien, Geschichte, S. 837). Das Oberhaus besteht aus den erblichen Peers und den anglikanischen Bischöfen von England (s. Großbritannien, S. 776); die Krone hat das Recht der Peersernennung (Pairsschub), wovon besonders Gebrauch gemacht wird, um die Opposition des Oberhauses zu beseitigen. Nach dem Muster des Mutterlandes sind auch in den englischen Kolonien Parlamente errichtet worden, die ähnlich zusammengesetzt sind.

Die Mitglieder des Parlaments sind wegen ihrer Reden und Abstimmungen in demselben nicht verantwortlich und nur der Disziplin des Hauses, in welchem sie sitzen, unterworfen; dagegen besteht ein Schutz derselben gegen kriminelle Verhaftung nur in beschränktem Maß. Jedes Mitglied des Unterhauses muß sein Mandat niederlegen, wenn es von der Krone ein Amt annimmt. Beide Häuser haben das Recht, die Gesetze zu genehmigen, die Abgaben zu bewilligen und den Staatshaushalt festzustellen; doch werden alle Finanzgesetze zuerst im Unterhaus beraten, und das Oberhaus kann die Beschlüsse des Unterhauses über dieselben im ganzen annehmen oder verwerfen, aber nicht abändern. Die Krone besitzt das absolute Veto, aber Wilhelm III. hat zum letztenmal davon Gebrauch gemacht. Die Initiative der Gesetzgebung überläßt die Krone meist dem P., indem auch die Gesetze, welche sie beschlossen wünscht, von den Ministern nicht als solchen, sondern als Mitgliedern des Parlaments eingebracht werden. Die Kontrolle der Staatsverwaltung wird vom P. durch Interpellation, Einsetzung besonderer Kommissionen, Resolutionen, Adressen und Anklagen sowohl gegen die Minister als gegen jeden andern Beamten ausgeübt. Die Anklage (impeachment) wird vom Unterhaus beschlossen, vom Oberhaus verhandelt und entschieden. Ohne solches Rechtsverfahren kann die Bestrafung eines Beamten nur durch ein besonderes Gesetz (bill of attainder) erfolgen. Einen wichtigen Teil der Beschäftigung des Unterhauses bilden die Privatgesetze (private bills), da Naturalisationen, die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an Gesellschaften, Konzessionen von Eisenbahnen, Lokalstatuten u. a. der Zustimmung des Parlaments bedürfen. Jeder Antrag wird dreimal verlesen; wird er bei der zweiten Lesung genehmigt, so geht der dritten Lesung und Schlußabstimmung eine Ausschußberatung voraus, indem entweder ein besonderer Ausschuß gewählt wird, oder das Haus sich in ein Komitee unter einem besondern Vorsitzenden (chairman) anstatt des Sprechers zur freiern Beratung auflöst. Nur im Komitee kann ein Mitglied mehr als einmal sprechen und eine Amendierung erfolgen. Wer reden will, erhebt sich und nimmt den Hut ab; das Wort erhält der, den "des Sprechers Auge zuerst erblickt". Die Genehmigung der Gesetze erfolgt im Oberhaus, vor dessen Schranken das Unterhaus entboten wird, durch eine königliche Kommission. Wird eine der Lesungen abgelehnt oder auf sechs Monate vertagt, so gilt der Antrag als verworfen.

Man hat amtliche Sitzungsberichte für das Oberhaus seit 1509, für das Unterhaus seit 1547, Aufzeichnung der Reden seit 1680. Eine umfassende Darstellung der Parlamentsverhandlungen geben: "The parliamentary history of England, from the Norman conquest to 1803" (Lond. 1806-20, 36 Bde.); "The parliamentary debates published under the superintendency of Hansard" von 1803 an. Die vom Unterhaus jährlich zum Druck beförderten Papiere füllen über 50 Foliobände. Vgl. May, Treatise upon the law, privileges, proceedings and usage of parliament (9. Aufl., Lond. 1883; deutsch bearbeitet von Oppenheim, 2. Aufl., Leipz. 1880); Todd, Über die parlamentarische Regierung in England (deutsch, Berl. 1869-71, 2 Bde.); Derselbe, Parliamentary government in the British colonies (2. Aufl., das. 1887); Gneist, Das englische P. in tausendjährigen Wandlungen (das. 1886).

Eine ganz andre Bedeutung hatte das P. in Frankreich; der Name bezeichnete hier die obersten Reichsgerichte. Das älteste war das P. von Paris. Dasselbe, aus dem alten Pairshof (s. Pairs) entstanden, bestand aus Edelleuten, hohen Geistlichen, königlichen Hofbeamten und rechtskundigen Räten, übte die Funktionen eines obersten Gerichtshofs aus, erkannte in allen Angelegenheiten der Reichsstände und registrierte Gesetze, Edikte und Ordonnanzen. Dies Register hieß vom Anfangswort Olim, und ein Teil (1254-1318) ward 1840 in den "Documents inédits