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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Preußen

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Preußen (Geschichte: Friedrich Wilhelm III., bis 1814).

über die Ergänzung des Offizierstandes und organisierte die Ausrüstung, das Exerzitium und die Rekrutierung des Heers, das fortan nur aus Landeskindern bestehen sollte.

Zugleich trat in den gebildeten Kreisen ein wichtiger Umschwung der Meinungen ein. Deutscher und preußischer Patriotismus wurden nicht mehr als engherzige, beschränkte Ansichten verlacht, die edelsten Geister, wie Fichte und Schleiermacher, suchten die Liebe zum Vaterland zu erwecken; das nationale Pathos der Schillerschen Dichtungen teilte sich immer weitern Kreisen des Volkes mit, die Stiftung der Berliner Universität sollte einen Mittelpunkt der nationalen geistigen Bestrebungen schaffen. Ein sittlich-wissenschaftlicher Verein, der "Tugendbund", vereinigte in Königsberg die bedeutendsten Männer zu gemeinschaftlichem patriotischen Streben. Die Führer der preußischen Reformpartei bereiteten alles auf eine baldige Erhebung vor, die Ereignisse in Spanien und die Rüstungen Österreichs ermutigten zu dem entscheidenden Schritt; nur der König zauderte. Da gab der Verrat des Steinschen Briefs an Wittgenstein Napoleon erwünschten Anlaß, den König vollends einzuschüchtern, Steins Entlassung zu fordern und P. den demütigenden Vertrag vom 8. Sept. 1808 aufzuzwingen, der es mit einer neuen Kontribution von 140 Mill. Frank belastete und ihm verbot, mehr als 42,000 Mann Soldaten zu halten. Nach Steins Entlassung (24. Nov.) bekamen die reaktionäre Junkerpartei und die französisch gesinnten Friedensfreunde, die Marwitz, Köckeritz, Kalckreuth u. a., die Oberhand am Hof; P. nahm aus Rücksicht auf Rußland an der glorreichen Erhebung Österreichs 1809 keinen Anteil, das Ministerium Altenstein führte die Verwaltung ohne Plan und Ziel, der Tugendbund wurde aufgelöst, und mit der Rückkehr des Königs nach Berlin inmitten franz. Besatzungen schien die geduldige Unterwerfung unter das verhängte Schicksal ausgesprochen zu sein. Erst als Altenstein mit den Finanzen nicht fertig werden konnte und sogar den Verkauf eines Teils von Schlesien empfahl, ward er entlassen (6. Juni 1810) und Hardenberg mit dem Titel eines Staatskanzlers mit der obersten Leitung sämtlicher Staatsangelegenheiten betraut, welche er im Geiste Steins fortführte. Die Aufhebung aller Steuerbefreiungen (27. Okt. 1810), die Einführung der Gewerbefreiheit, die Einziehung aller Klöster und geistlichen Stifter folgten rasch aufeinander; 14. Sept. 1811 wurde das Edikt über die Regelung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse erlassen, durch das die Bauern, welche nun Fron- und Handdienste ablösen konnten, freie Verfügung über ihr Grundeigentum erhielten, 11. März 1812 die Juden in staatlichen Rechten und Pflichten den Christen fast gleichgestellt. Eine konstitutionelle Verfassung indes konnte Hardenberg dem heftigen Widerstand der Reaktionäre gegenüber nicht durchsetzen. Selbst bei den Notabeln, welche er 1811 mehrere Male versammelte, um sie über die Reformen aufzuklären, begegnete er verstocktem Widerwillen. Die Handelssperre, die ungeheuern Kriegslasten, die Finanznot des Staats lähmten allerdings vielfach die wohlthätigen Wirkungen der Stein-Hardenbergschen Reformen. Um so mehr wuchs der Haß gegen die Fremdherrschaft, die Sehnsucht nach Befreiung. Aus dieser Stimmung gingen die außerordentlichen, bewunderungswürdigen Leistungen aller Schichten des preußischen Volkes im deutschen Befreiungskrieg (s. d.) hervor, der die Schmach von 1806 glänzend tilgte u. den Ruhm des Fridericianischen P. wiederherstellte.

Die Zeit nach den Befreiungskriegen.

Die Opfer, welche der seit 1806 durch den unglücklichen Krieg, dann die französische Aussaugung erschöpfte Staat in dem neuen Krieg an Menschen (140,000) und an Geld brachte, waren ungeheuer. Der Lohn, der ihm auf dem Wiener Kongreß zu teil wurde, entsprach diesen Opfern nicht: P. wurde nicht in dem Umfang von 1806 wiederhergestellt; statt 314,000 qkm zählte es 1815 nur 277,000 qkm. Die Erwerbungen der dritten polnischen Teilung trat es an Rußland, Ansbach und Baireuth an Bayern, Ostfriesland, Hildesheim und Goslar an Hannover ab. Von Sachsen erhielt es bloß die Hälfte. Wertvoll waren der Gewinn Neuvorpommerns und die Abrundung Westfalens, während die neuerworbene Rheinprovinz aus so heterogenen und Deutschland so lange entfremdeten Gebieten bestand, daß ihre Verschmelzung mit den übrigen Teilen des Staats die größten Schwierigkeiten bereiten mußte. Der neue Staat war überdies in zwei ungleiche Hälften zerteilt, mit Absicht das England gehörige Hannover dazwischengeschoben und diesem Mittelstaat die Mündungen der Elbe und Weser gegeben worden. Die Eifersucht der verbündeten Mächte hatte bewirkt, daß P. die ihm gebührende Stellung in Deutschland nicht erhielt und auf allen Seiten von unbequemen Nachbarn beengt wurde: im S. von Österreich, im O. von Rußland, im W. von Frankreich und dem neugeschaffenen Königreich der Niederlande. Die Lage Preußens forderte zur größten Vorsicht auf, nötigte es aber zugleich zum Zusammengehen mit dem übrigen Deutschland und damit zu einer wirklich deutschen Politik.

Nicht weniger schwierig war nach dem Krieg die Lage Preußens im Innern. Die alten und neuen Gebietsteile wurden durch Verordnung vom 20. April 1814 in zehn, später in acht Provinzen, jede Provinz in Regierungsbezirke, diese in landrätliche Kreise eingeteilt, von denen nur die größern Städte ausgenommen waren. An der Spitze eines Bezirks stand eine kollegialisch organisierte Regierung, diese unter dem Oberpräsidenten der Provinz, die Oberpräsidenten unter dem Ministerium, dessen Oberleitung der Staatskanzler hatte. Am 31. März 1817 wurde ein Staatsrat aus den königlichen Prinzen, den höchsten Staatsdienern und einigen aus besonderm Vertrauen des Königs berufenen Männern gebildet, welcher über die obersten Grundsätze der Verwaltung und über neue Gesetze zu beraten hatte. Die neue Verwaltung sollte einmal die neuen Provinzen auf preußische Weise einrichten und dann die zerrütteten Finanzen ordnen. Das erstere griff das preußische Beamtentum mit unermüdlicher Thatkraft und Energie an, stieß dabei aber bei der Bevölkerung, namentlich der rheinischen, vielfach auf hartnäckiges Mißtrauen, zumal sowohl die neuen Steuern als namentlich die allgemeine Wehrpflicht und die Landwehrorganisation, welche durch Gesetz vom 3. Sept. 1814 eingeführt wurden, unbequem und die Bewohner der ehemaligen geistlichen Territorien eine starke, aber auch fürsorgliche Regierung nicht gewohnt waren. Dennoch wurde die Einordnung der neuen Gebiete in das preußische Staatswesen rasch erreicht. Ebenso wurden die Finanzen bald in Ordnung gebracht. Obwohl die Schuldenlast des Staats 200 Mill. Thlr. betrug, P. nur 40 Mill. aus der französischen Kriegsentschädigung erhielt, davon noch für neue Erwerbungen, wie Schwedisch-Pommern, erhebliche Summen bezahlen, Kriegsentschädigungen leisten, die zerstörten Festungen wiederherstellen, Kriegsvorräte und -Aus-^[folgende Seite]