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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Provençalische Sprache und Litteratur

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Provençalische Sprache und Litteratur.

oder letra) ist als eine besondere, durch eine Anzahl von Beispielen vertretene Gattung der provençalischen Lyrik zu erwähnen. Außer den genannten gab es noch mehrere andre seltener gebräuchliche Formen.

Die provençalische Lyrik hat sich selbständig aus dem Geiste der südfranzösischen Nationalität und ihrer gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere aus dem Geist ihres Rittertums, entwickelt und kann daher, wie gering im Vergleich zur Dichtung der andern romanischen Nationen auch ihr poetischer Wert sein mag, wenigstens den Ruhm vollständiger Originalität in Anspruch nehmen. Schon aus diesem Grund sowie als die älteste Dichtung der romanischen Völkerfamilie ist sie von großer litterarhistorischer Bedeutung, ebensosehr auch wegen des Einflusses, den sie auf die Dichtung benachbarter Nationen übte. Denn sie verbreitete sich auch über den nördlichen Teil von Spanien und Italien, deren erste eigne lyrische Erzeugnisse auf provençalischen Mustern beruhen. Auch die nordfranzösische Lyrik nahm sich die Troubadourdichtung zum Vorbild. Als dem Geiste der südfranzösischen Gesellschaft am meisten entsprechend, bildet die höfische Lyrik den eigentlichen Mittelpunkt der provençalischen Litteratur, und alle andern litterarischen Gattungen treten sowohl der Masse als dem Wert nach bedeutend gegen sie zurück. Ihre Blütezeit umfaßt das 12. und 13. Jahrh. Die Zahl der Troubadoure, von denen oder unter deren Namen noch Lieder vorhanden sind, beträgt über fünftehalbhundert; außerdem ist eine ansehnliche Zahl von Liedern namenlos auf uns gekommen. Der älteste dem Namen nach bekannte Troubadour war Wilhelm IX., Graf von Poitiers (gest. 1127), dessen wenige noch erhaltene Lieder noch einen ganz volkstümlichen Charakter haben. Unter seinen nächsten Nachfolgern sind besonders der wunderliche, menschenverachtende Marcabrun (gest. 1185) und Jaufre Rudel, Prinz von Blaya (gest. 1170), zu nennen. Die Höhe der höfischen Kunstdichtung in Form und Gehalt fällt in das Jahrhundert von 1150 bis 1250. Hier wirkten Guillem de Cabestaing (gestorben um 1190), bekannt durch sein romantisches Geschick; Graf Rambot III. von Orange (gest. 1173), der Liebesverse mit der Gräfin Beatrix von Die tauschte; Bernart von Ventadour (gest. 1195), ausgezeichnet in der Kanzone; Guiraut de Borneil (gestorben um 1220), der von seinen Zeitgenossen selbst als Meister anerkannt wurde; der geistvolle, aber bizarre Peire Vidal (gest. 1215); Pons de Capdeuil (um 1190) mit seinen kunstvollen, nie die Schicklichkeit verletzenden Liedern; der durch seine wilde Kampflust wie durch frevelhafte Intrigen allbekannte Bertrand de Born (blühte 1180-95), einer der größten Meister im Sirventes; sodann Rambaut von Vaqueiras (gest. 1207), der Hofdichter und Freund des Prinzen Wilhelm IV. von Orange; Aimeric von Peguilain (gest. 1270), von dem noch etwa 50 Lieder erhalten sind; der schwungvolle Peirol (gest. 1225); Arnaud Daniel (gest. 1200); Gaucelm Faidit (gest. 1240), der Dichter schwungvoller Kreuzlieder; Raimon von Miraval (gestorben um 1220); der pfaffenfeindliche Guillen Figueiras, gleichfalls im Sirventes ausgezeichnet; Savaric von Mauleon (um 1220); Peire Cardinal (um 1210-30), der Meister des moralischen Sirventes, u. v. a. Unter den regierenden Fürsten, welche selbst Troubadoure waren, sind besonders König Richard Löwenherz (gest. 1199) und König Alfons II. von Aragonien (gest. 1196) zu nennen. Die Periode von der Mitte bis zu Ende des 13. Jahrh. ist als die Periode des Verfalls der Troubadourdichtung zu bezeichnen. Die Albigenserkriege und ihre unmittelbaren Folgen hatten die Reihen der Troubadoure, welche mit ihrer Kunst auf seiten der besiegten Partei gestanden hatten, sehr gelichtet. Die bedeutendern hatten das Land verlassen und an den spanischen und norditalienischen Höfen eine Zuflucht gefunden. Ihre bisherigen Gönner und Beschützer, die Fürsten und Herren, verloren ihre Unabhängigkeit, verarmten zum Teil und konnten die Dichter nicht mehr, wie früher, fürstlich belohnen. Zugleich aber erlosch jener Geist echter Ritterlichkeit, aus welchem die Troubadourdichtung hervorgegangen war. Ein veränderter Zustand der Gesellschaft, eine veränderte Lebensweise hatten andre Bestrebungen, andre Genüsse zur Folge, und die alte Dichtkunst fiel der Vernachlässigung anheim. Vergebens suchten die bessern Dichter ihr dadurch wieder aufzuhelfen, daß sie ihre Kunst als Wissenschaft behandelten und ihren Gedichten einen gelehrten Ton gaben. Der Hauptvertreter dieser Richtung ist Guiraut Riquier (1250 bis 1294), mit welchem die lange Reihe der echten Troubadoure schließt. Im folgenden Jahrhundert ging die Dichtkunst völlig in die Hände des zünftigen Bürgertums über, welches durch die Stiftung der Akademie der "Blumenspiele" (s. Jeux floraux) zu Toulouse den alten Troubadourgesang wieder ins Leben zu rufen suchte, aber nur einen schwachen Nachklang desselben erzeugte, der gegen den Ausgang des Mittelalters völlig verhallte, nachdem inzwischen die Sprache selbst in ihrer alten Form erloschen war und sich in ein bloßes Patois verwandelt hatte.

Gegenüber der Masse noch vorhandener Troubadourlieder erscheint die Zahl der uns erhaltenen epischen Dichtungen der Provençalen äußerst gering. Mutmaßlich aber hat Südfrankreich niemals eine reich entwickelte Epik gehabt, weil dieselbe von der überwuchernden Lyrik zurückgedrängt wurde. Die alten epischen Volkslieder der Provençalen sind zum bei weitem größten Teil in Nordfrankreich, wo im Gegensatz zum Süden die Epik den Mittelpunkt der poetischen Litteratur bildete, zu eigentlichen Epen verarbeitet worden. Das älteste und zugleich einzige auf historischen Grundlagen ruhende originale Epos in provençalischer Sprache, welches wir besitzen, ist der "Girartz de Rossilho" aus dem karolingischen Sagenkreis, aus dem Anfang des 12. Jahrh., von unbekanntem Verfasser (hrsg. von C. Hofmann, Berl. 1855-1857, und von Fr. Michel, Par. 1856), wogegen der provençalische "Fierabras" (hrsg. von I. Bekker in den Abhandlungen der Berliner Akademie 1829) nur Übersetzung eines nordfranzösischen Originals ist. Dem Sagenkreis von König Artus gehört an der "Roman de Jaufre" aus der Mitte des 13. Jahrh., gleichfalls von unbekanntem Verfasser (im Auszug hrsg. von Raynouard im "Lexique roman", Bd. 1). Außerhalb eines bestimmten Sagenkreises stehen der kulturhistorisch wichtige "Roman de Flamenca" aus der Mitte des 13. Jahrh. (hrsg. von P. Meyer, Par. 1865) sowie der "Roman de Blandin de Cornoalha e Guilhem de Miramar" (hrsg. von P. Meyer, das. 1873). Aus dem Anfang des 14. Jahrh. endlich ist der "Roman de Guillen de la Barra" von Arnaud Vidal (in einzelnen Proben hrsg. von P. Meyer, Par. 1868). Eine kleine Anzahl von Novellen gibt es von den Troubadouren Raimon Vidal, Arnaud de Carcasses und Peire Guillem. Unter den Heiligenlegenden sind die der heil. Enimia von Bertran de Marseille (hrsg. von Sachs, Berl. 1857) und das noch unedierte Leben des heil. Honorat von Raimon Feraut zu erwähnen. Von historischen Gedichten