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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Agrarverfassung).

von Bauern unterschieden: die Vollbauern, Kleinbauern und Gärtner. Letztere besitzen kein Ackerland, sondern nur ein Gehöft. Das Land wird hier unter Beobachtung besonderer Regeln den bäuerlichen Familien zur bleibenden Nutzung überwiesen, wobei jedoch der Inhaber an gewisse Bestimmungen gebunden ist, z. B. darf er nur mit Zustimmung der Gemeinde seinen Anteil einem Gemeindegenossen oder einer andern Person abtreten, die Teilung des Landanteils unter die Erben ist nur bis zu einer gewissen Grenze gestattet, im Fall des Todes eines Wirts ohne Erben fällt das Land an die Gemeinde zurück u. dgl. m. Ähnliche Gesetze, die der Zersplitterung von Grund und Boden vorbeugen, gelten in den kleinrussischen Gouvernements Tschernigow, Poltawa und in einem Teil von Charkow. Gehöfte und Feldanteile können nur so weit zerlegt werden, daß keiner der Teile geringer wird als ein für die betreffende Örtlichkeit angesetztes Minimum. In den nordwestlichen Gouvernements, in Wilna, Grodno, Kowno, Minsk und einigen Kreisen von Witebsk, nähert sich der bäuerliche individuelle Grundbesitz mehr den westeuropäischen Zuständen. Man unterscheidet die bäuerlichen Wirte von den sogen. Gärtnern, die durchweg kleine Landstücke besitzen. Schärfer als in den andern Gegenden des Reichs ziehen hier gesetzliche Bestimmungen der Zerstückelung und Zusammenlegung bäuerlicher Höfe bestimmte Grenzen. Kein Bauer darf in einer Gemeinde mehr als drei Höfe besitzen, u. bei Erbteilungen darf ein Hof nur so geteilt werden, daß kein Teil weniger als zehn Deßjätinen umfaßt.

Eine großartige Reform war das bäuerliche Emanzipationsgesetz vom 19. Febr. 1861, welches den bisher leibeignen Bauern die persönliche Freiheit brachte, ihnen freie Selbstverwaltung einräumte und das Recht der Erwerbung von Grundeigentum verlieh. Für den letztern Zweck gewährte die Regierung Darlehen. Mit Einwilligung des Gutsherrn konnten die Bauern die ihnen zu bleibender Nutznießung angewiesenen Ackerländereien und andres Areal als Eigentum erwerben, durch welchen Akt sie ihrer Verpflichtungen gegen die Gutsherren enthoben wurden und in den Stand der freien bäuerlichen Grundeigentümer eintraten. In den litauischen Gouvernements Wilna, Kowno u. a. wurde durch die Gesetze vom 1. März, 30. Juli und 2. Nov. 1863 der Zwangsverkauf der Bauernländereien eingeführt. Mit der Durchführung der Ablösung hatte es aber seine Schwierigkeiten. Abgesehen von den westlichen Gouvernements, in denen 2,716,000 Bauern durch Zwangsablösung Eigentümer wurden, hatten von 7,421,000 Seelen früherer gutsherrlicher Bauern in den innern Gouvernements bis 1. Jan. 1882 nur 5,999,000 Seelen, also 81 Proz., ihr Verhältnis zum Gutsherrn durch Ankauf des Landes gelöst; 1,422,000 Bauern standen noch in Abhängigkeit vom Gutsbesitzer. Diesem Übelstand abzuhelfen, sind zwei neue Gesetze vom 28. Dez. 1881 bestimmt, das eine über die Ermäßigung der Ablösungszahlungen, das andre über die Zwangsablösung des noch nicht abgelösten Bauernlandes. Das letztere Gesetz erstreckt sich auf die Gouvernements Astrachan, Wladimir, Wologda, Woronesh, Wjatka, Jekaterinoslaw, Kasan, Kaluga, Kostroma, Kursk, Moskau, Nishnij Nowgorod, Nowgorod, Olonez, Orenburg, Orel, Pensa, Perm, Poltawa, Pskow, Rjäsan, Samara, St. Petersburg, Saratow, Simbirsk, Stawropol, Taurien, Tambow, Twer, Tula, Ufa, Charkow, Cherson, Tschernigow, Jaroslaw und das Gebiet der Donischen Kosaken. Das erstere erstreckt sich gleichfalls auf die genannten Gouvernements sowie auf diejenigen Bauern in Mohilew und in einigen Kreisen von Witebsk, die vor dem Erlaß des die Zwangsablösung im westlichen Rußland dekretierenden Ukases vom 2. Nov. 1863 ihr Land ablösten, ohne später eine Ermäßigung zu erfahren. Nach dem ersten Gesetz über die Zwangsablösung wurden mit 1. Jan. 1883 diejenigen Bauern, die ihr Land noch nicht abgelöst haben, zu Eigentümern desselben, wobei die Gutsbesitzer durch 5proz. Reichsbankbillets im Betrag der Kapitalisierung der im Grundbuch verzeichneten Pacht nach Abzug von 20 Proz. entschädigt werden. Die betreffende Ablösungsschuld haben die Bauern in 49 Jahren durch jährliche Zinsen und Amortisationszahlungen abzutragen. In dem zweiten Gesetz von demselben Tag ist die Ermäßigung der Ablösungszahlungen auf einen Rubel pro Revisionsseele (pro Seelenlandanteil), in Kleinrußland auf 16 Kopeken pro Rubel der bisherigen Ablösungszahlungen festgesetzt.

Durch das denkwürdige Gesetz von 1861 hat der Grundbesitz eine wesentlich andre Gestaltung bekommen. Bis dahin besaßen von dem Gesamtareal die Regierung 64,6 Proz., die Gutsbesitzer 30,6, die Apanagen 3,3 Proz., und auf den Kleingrundbesitz entfielen 1,7 Proz. Nach dem Emanzipationsgesetz hat sich das Verhältnis so verschoben, daß der Staat 39,5, die Bauern 32,6, die Gutsbesitzer und andre Privatpersonen 26, die kaiserliche Familie 1,9 Proz. besitzen. Gleichwohl war die Lage der Bauern und der gesamten russischen Landwirtschaft dadurch keine bessere geworden. Gleich bei der Ablösung kamen manche Mißbräuche vor, und die Bauern wurden von den Gutsbesitzern, die ihren Vorteil wahrzunehmen wußten, mit sehr kleinen Landanteilen abgespeist. Dazu gesellte sich starke Zersplitterung der zuerst hinreichend großen Wirtschaftseinheiten infolge von Erbteilungen; es litten ferner viele Bauern durch die solidarische Haft, sofern sie dieselbe mit lässigen oder unfähigen Gemeindegliedern zusammen tragen mußten; auch erschöpfte sich der Boden in nicht wenigen Gegenden durch irrationelle Bewirtschaftung, kurz die Situation der russischen Landwirtschaft ist eine nicht unbedenkliche und gibt den Sachverständigen seit Jahren Veranlassung, sich über die Bedrohung der Zukunft und die Maßregeln zur Abhilfe auszusprechen. Als eine nachträgliche Korrektur des Emanzipationsgesetzes von 1881 kann die 1883 ins Leben getretene Bauernagrarbank angesehen werden, insofern dieselbe den Bauern, welche Grundbesitz zu erwerben wünschen, Geld unter Verpfändung des zu kaufenden Landes vorschießt. Gleichzeitig unterstützt diese Bank die Übersiedelung der Bauern aus dicht bevölkerten Gouvernements in dünner bevölkerte Gegenden mit fruchtbarem Boden. Bis zum 1. Jan. 1888 haben 709 Bauern, 1583 Gemeinden und 2826 Genossenschaften mit Hilfe der Bank Land erworben. Im ganzen haben 186,353 Familien mit 593,950 Seelen männlichen Geschlechts, also rund 1 Mill. Seelen beiderlei Geschlechts, ihre ökonomische Lage durch Ankauf von 1,267 Mill. Deßjätinen für 61 Mill. Rub. mehr oder weniger gebessert. Was die Übersiedelung anlangt, so sind dazu die großen Krongüter im S. und SO., in den Gouvernements Cherson, Jekaterinoslaw, Taurien, Samara, Saratow, Ufa und Orenburg, ausersehen, und eine mit der Regulierung dieser Angelegenheit betraute Kommission ist bereits ernannt. Die Zahl der Übersiedler wurde 1883 auf 1,045,000 geschätzt; die durch den Wegzug frei werdenden Grundstücke sollen dann den Zurückbleibenden zugeteilt werden. Schon seit Jahren haben