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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Geschichte 1863-1877).

wesentlich erleichtert, sondern auch auf den Rat Wielopolskis den Polen eine größere nationale Selbständigkeit zugestanden und seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, zum Statthalter ernannt, in der Hoffnung, hierdurch die Polen zu versöhnen. Aber die Geistlichkeit, ein Teil des Adels und besonders die städtische Bevölkerung Warschaus wurden durch diese Nachgiebigkeit nur zu schrofferer Opposition und zur Hoffnung auf völlige Losreißung von Rußland angestachelt, und als eine gewaltsame Rekrutenaushebung für den 14. Jan. 1863 angeordnet wurde, um die Warschauer Jugend unschädlich zu machen, kam es zum Ausbruch einer Insurrektion, die von einem geheimen Zentralkomitee geleitet und durch einen rücksichtslosen Terrorismus wachgehalten wurde. Obwohl die Aufständischen nur größere Banden, keine Heere aufbringen konnten und die Intervention der Westmächte zu gunsten Polens von Rußland kurzerhand abgewiesen wurde, so erforderte doch die Niederwerfung des Aufstandes erhebliche Anstrengungen und Opfer. In dieser Krisis vollzog sich in der nationalliberalen Partei, deren Führer Tscherkaßki, Miljutin, Samarin, Katkow, Aksakow u. a. waren, und welche die großen Reformen Alexanders hauptsächlich unterstützt hatte, ein Umschwung, indem statt der freiheitlichen Ziele die nationalen in den Vordergrund traten, die Pflege des Altrussentums und die Vereinigung aller orthodoxen Slawen unter russischer Führung (Panslawismus) fortan als die Aufgaben der russischen Politik galten. In ihrer Abneigung gegen die westliche Kultur wollten die Führer der Nation auch von konstitutioneller Verfassung nichts wissen. Die Unredlichkeit und Käuflichkeit des Beamtentums wurde nicht beseitigt, und damit beraubte sich der Staat des Organs, um den Bauernstand wirklich zu heben, durch Volksschulen ihn zur Nüchternheit, Sparsamkeit und zum Fleiß zu erziehen und durch Verbesserung der Landwirtschaft auch dem Gewerbe und Handel eine gesunde Grundlage zu verschaffen. Die Finanzen gesundeten nicht, die Reform des Steuerwesens geriet ins Stocken. Die erhebliche Vermehrung der höhern Schulen, besonders der Gymnasien, hatte zwar einen erheblich stärkern Besuch der Universitäten, aber auch die Ansammlung eines gefährlichen geistigen Proletariats zur Folge.

Seit dem polnischen Aufstand schlug die russische Politik die erobernde Richtung früherer Zeiten ein. Polen (s. d., S. 180) wurde zu völliger Russifizierung bestimmt. Gleichzeitig mit der völligen Unterwerfung der kaukasischen Bergvölker, mit der Gefangennahme Schamyls (25. Aug. 1859) und der Besiegung der Ubychen (21. März 1864) wurde das Amurgebiet durch einen Vertrag mit China (1860) erworben und von Japan Sachalin gegen die Kurilen eingetauscht, wogegen das russische Nordamerika gegen die Zahlung von 7 Mill. Dollar an die Vereinigten Staaten von Nordamerika abgetreten wurde (1867). In Mittelasien wurden dem Chan von Bochara 1867 Taschkent und 1868 Samarkand genommen, aus deren Gebiet das Gouvernement Turkistan gebildet wurde. Durch den Zug des Generals Kaufmann gegen Chiwa 1873 wurde diesem Chanat das rechte Ufer des Amu Darja entrissen und der Rest zu einem russischen Vasallenstaat gemacht, 1876 endlich das ehemalige Chanat Chokand als Provinz Ferghana dem russischen Reich einverleibt. In der europäischen Politik hielt Kaiser Alexander die panslawistischen Gelüste der altrussischen Partei, wie sie in deren Organ, der "Moskauer Zeitung" Katkows, zum Ausdruck gelangten, zunächst im Zaum und schritt aus Freundschaft für Preußen, das ihm 1863 bei der Unterdrückung des polnischen Aufstandes treu zur Seite gestanden hatte, weder 1864 im deutsch-dänischen Krieg noch 1866 im preußisch-deutschen Krieg ein. Ja, auch während des deutsch-französischen Kriegs verhielt sich Rußland neutral und hielt dadurch Österreich von einem Einschreiten zu gunsten Frankreichs ab. Zum Dank dafür bewirkte Bismarck, daß auf der Pontuskonferenz in London (Januar bis März 1871) der § 11 des Pariser Friedens von 1856 aufgehoben wurde, der die Beschränkungen der freien Aktion Rußlands im Schwarzen Meer enthielt.

Die Haltung des Kaisers während des deutsch-französischen Kriegs war aber von der russischen Bevölkerung, die entschieden französische Sympathien hatte, nicht gebilligt worden, und die Erfolge Preußens, das man als einen Vasallen Rußlands anzusehen sich gewöhnt hatte, sowie die Bildung eines starken Deutschen Reichs erregten Neid und Eifersucht. Die Regierung, welche durch Anzeichen von Gärung, wie das Attentat Karakassows auf den Zaren (10. April 1866), ängstlich geworden war und vor weitern innern Reformen zurückscheute, sah sich um so mehr gedrängt, dem nationalen Stolz eine Genugthuung zu geben. Zunächst wurde nach dem Muster der deutschen Heeresverfassung die russische 1873 vom Kriegsminister Miljutin umgestaltet, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und die Truppenkörper sowohl als die Zahl der Soldaten im Kriegsfall beträchtlich vermehrt. Dann wurde zunächst von der panslawistischen Partei die orientalische Frage wieder in Gang gebracht. Während der russische Botschafter in Konstantinopel, Ignatiew, den Sultan Abd ul Asis und den Großwesir Mahmud Pascha durch das Versprechen, sie im Notfall mit russischen Truppen zu unterstützen, ganz für sich gewonnen hatte, zettelten panslawistische Agitatoren 1875 einen Aufstand in der Herzegowina an, der sich 1876 auch nach Bulgarien verbreitete. Hier ward er aber von den Türken blutig unterdrückt, die Serben, die einen Krieg begonnen hatten, zurückgeschlagen und gleichzeitig der Sultan Abd ul Asis gestürzt (29. Mai 1876). Die panslawistische Partei drängte nun zum Krieg, und die Regierung begann auch zu rüsten und die Truppen an den Südgrenzen zusammenzuziehen; am 13. Nov. 1876 wurden sechs Armeekorps mobil gemacht, und 5. Dez. nahm der zum Oberbefehlshaber ernannte Großfürst Nikolaus seinen Sitz in Kischinew. Die Konferenz in Konstantinopel im Winter 1876/77 verlief resultatlos, da die Pforte die gewünschten Garantien für ihre christlichen Unterthanen verweigerte und das 31. März 1877 von den Mächten angenommene Protokoll ablehnte. Hierauf wurde von Rußland 24. April 1877 an die Türkei der Krieg erklärt.

Der sechste russisch-türkische Krieg (1877/78) wurde unternommen, um die orientalische Frage im russischen Sinn zu lösen, aber nicht, wie früher, durch Befreiung der Christen, sondern der "slawischen Brüder". Da Rußland der wohlwollenden Neutralität Deutschlands gewiß sein konnte und Österreich sich im Januar 1877 durch einen besondern Vertrag, der ihm Bosnien und die Herzegowina zusicherte, zur Nichteinmischung verpflichtet hatte, so war die ganze russische Heeresmacht für den Krieg verfügbar, und zwei Armeen konnten gleichzeitig 24. April in Asien über die armenische und in Europa über die Grenze Rumäniens gehen, das sich zu einem Bündnis mit Rußland genötigt sah, dafür aber sich für unabhängig erklären durfte. Die kaukasische Armee, deren Oberbefehl Großfürst Michael führte, erstürmte 17. Mai