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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Tauben

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Tauben (Taubenpost, Kulturgeschichtliches etc.).

digkeit des Flugs der Brieftaube beträgt 60-70 km in der Stunde, übertrifft also die der schnellsten Eisenbahnzüge. Bei 15-20 Meilen Entfernung kommen fast sämtliche Brieftauben unter günstigen Verhältnissen heim, mit der zunehmenden Weite aber verringert sich ihre Anzahl. Als Verlust auf kürzern Flügen schätzt man etwa 10 von 100 T., doch nimmt diese Zahl mit der Entfernung in steigendem Verhältnis zu. Bei mehr als 100 Meilen Weite ist auf die Rückkehr überhaupt nicht mehr sicher zu zählen, und dann bleiben sonderbarerweise gerade die besten und zuverlässigsten Brieftauben am ehesten aus. Es haben indes auf eine Entfernung von 1600 km (Madrid-Lüttich) einige der ausgelassenen T. ihren Heimatsschlag erreicht, und 1886 flogen von 9 Brieftauben eine von London in den Heimatsschlag zu Boston, eine zweite erreichte New York, eine dritte Pennsylvanien. Die Antwerpener Vereine wählen für die Konkurse eine Weite von höchstens 200 Stunden. Wenn die Brieftaube in der Jugend nicht zu sehr angestrengt wird, so hält sie wohl mehrere Jahre gut aus, und man hat Brieftauben von 6, 7-10 Jahren, die noch alljährliche Wettflüge in tüchtigster Weise mitmachen.

Zu den Auflaßorten werden die T. in besonders konstruierten, ihre Verpflegung zulassenden Reisekörben per Kurier- oder Schnellzug unter Aufsicht eines Wärters befördert. Dort angekommen, werden sie an einem freie Übersicht gewährenden Ort bei guter Witterung, und nachdem sie kurz vor dem Abflug noch getränkt, aber nicht gefüttert worden, aufgelassen; zur Kontrolle ist jedes einzelne Tier auf den Schwungfedern genau gezeichnet; an den Schlägen aber befindet sich ein elektrischer Läutapparat, welcher das Einspringen in den Stall dem Wärter anzeigt. Sollen die Brieftauben für Kriegszwecke benutzt werden, so werden sie bei der Mobilmachung aus den Festungen oder sonstigen Heimatsstationen nach den Außenstationen verschickt und dort interniert. Die Depeschen werden zu ihrer Beförderung auf mikrophotographischem Weg auf ein feines Kollodiumhäutchen übertragen, deren sich mehrere in einem Federkiel unterbringen lassen. Dieser wird mit einem Wachspfropfen geschlossen und an eine Schwanzfeder der Taube angenäht; daß diese Feder, wenn z. B. ein wenig in der Haut gelockert oder beim Zusammenstoß mit einem Raubvogel, leicht verloren gehen kann, liegt auf der Hand; deshalb verlangt das Befestigen der Depesche sehr geschickte Finger, und man fertigt stets fünf T. mit der gleichen Nachricht ab; deshalb hat man auch zu einem von den Chinesen seit undenklichen Zeiten angewandten Mittel gegriffen, um die T. nach Möglichkeit vor dem Anfall durch Raubvögel zu schützen. Man befestigt nämlich an die Schwungfedern Glöckchen von durchdringendem Ton, die von größter Leichtigkeit sind, das Tier also nur wenig belästigen und, je schneller die Taube fliegt, desto heller tönend, die Raubvögel verscheuchen. Durch die Mikrophotographie ist man im stande, den Inhalt von zwölf großen Journalen auf den Raum eines Zwanzigpfennigstücks zu konzentrieren; das Dechiffrieren erfolgt dann nach Vergrößerung mittels Lupe oder Laterna magika.

Die Benutzung der Brieftauben ist sehr alt, sie findet sich bei Chinesen, Griechen und Römern und scheint im Morgenland niemals aufgehört zu haben. Sie blühte besonders im 12. Jahrh. und später, seitdem der Kalif von Bagdad, Sultan Nur ed din, die ersten wirklichen Taubenposten eingerichtet hatte. Aus dem Orient brachten sie die Kreuzfahrer nach Deutschland, wo sie von Burg zu Burg Nachrichten trugen. Wilhelm von Oranien (1573 und 1574) und Napoleon I. benutzten Brieftauben zur Nachrichtenbeförderung im Krieg. Nathan Rothschild erhielt von seinen Agenten durch die Taubenpost die neuesten Nachrichten über Napoleons Feldzüge und benutzte dieselben zu seiner Spekulation. Auch zwischen Paris und Brüssel haben Bankhäuser Kurstauben unterhalten, und das Reutersche Büreau bediente sich bis 1850 einer Taubenpost zwischen Aachen und Brüssel. In ganz Belgien war damals bereits, wie noch heute, die Brieftaubenliebhaberei weit verbreitet, und die ganze milde Jahreszeit hindurch veranstaltete man allsonntäglich Wettflüge, welche vom König und den Behörden durch Aussetzung von Prämien unterstützt wurden. Dieser Sport verbreitete sich auch nach Frankreich, und 1820 hatte Paris einen Taubenwettflug. Zu großer Bedeutung gelangte die Brieftaubenpost 1870 bei der Belagerung von Paris; man sandte dort im ganzen 534 T. mittels des Luftballons ab, von denen etwa 100 zurückkamen. Eine Taube hat den Weg zehnmal gemacht. Auf diese Weise wurden 60 Serien von Depeschen nach Paris hinein befördert, und wenn diese Resultate einer improvisierten Einrichtung auch nicht sehr glänzende waren, so hatten sie doch für die belagerte Stadt hohen Wert und veranlaßten die Militärbehörden nach dem Frieden zu eingehender Berücksichtigung der Brieftaubenpost. In Frankreich errichtete man im Jardin d'acclimatation eine Zentralzuchtanstalt und stattete Paris und Langres derart mit T. aus, daß sie sechs Monate lang den Verkehr mit vielen andern Stationen unterhalten können. Taubenhäuser wurden außerdem in Vincennes, Perpignan, Lille, Verdun, Toul und Belfort errichtet. Aus dem Mont Valérien besteht eine Spezialschule für Trainierung junger Tauben. Ein Gesetz verpflichtet alle Besitzer von Brieftauben, diese im Krieg an die Regierung abzugeben, welche dadurch einen Zuwachs von 150,000 T. erwarten darf. Ähnliche Einrichtungen wurden seit 1872 in Deutschland getroffen. Das gesamte Militärbrieftaubenwesen ist der Inspektion der Militärtelegraphie, die Stationen (Köln [Zentralstelle], Mainz, Metz, Straßburg, Posen, Thorn, Wilhelmshaven, Kiel, Danzig) sind den örtlichen Fortifikationen oder Kommandanturen unterstellt. Die etwa 350 Brieftaubenvereine Deutschlands, besonders im Rheinland vertreten, werden im Krieg ihre etwa 50,000 T. der Heeresleitung zur Verfügung stellen. Nächst Deutschland ist die Kriegstaubenpost besonders in Italien entwickelt, und auch in fast allen andern Staaten hat man entsprechende Einrichtungen getroffen. 1876 wurden an der Nordseeküste, besonders in Tönning an der Eidermündung, Versuche angestellt, um eine Verbindung der in See liegenden Leuchtschiffe mit dem Land (55 km) durch T. herzustellen, und in der That haben die T. bei heftigen Stürmen die Lotsen herbeigerufen.

Die Taube ist das Symbol des Schöpfungswassers, der Urfeuchte (der Geist Gottes schwebte über den Wassern wie eine Taube), Regen u. Schiffergestirn, wegen ihrer Üppigkeit u. Fruchtbarkeit der Vogel der Venus, für welchen in Syrien Kolumbarien errichtet wurden. Babylon war die Stadt der Taube, wo die aus einem Taubenei geborne Semiramis herrschte. Taube, Phönix und Palme identifizierte die Hieroglyphe als Bilder der Zeit und der Zeugung. Noch jetzt nisten Scharen wilder T. ungestört in Mekka, und Freudenmädchen halten Korn für dieselben feil. Auch den Israeliten war die Taube heilig, und Jerusalem hieß ebenfalls Stadt der Taube. Die Taube war das At-^[folgende Seite]