Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Turnkunst

945

Turnkunst (Vereine; das Turnen außerhalb Deutschlands).

Preußen betreffend (Leipz. 1869); Rud. Lion, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in Bayern betreffend (2. Aufl., Hof 1884). - In der preußischen Armee wurde das Turnen durch die "Instruktion für den Betrieb der Gymnastik und des Bajonettfechtens bei der Infanterie" von 1860 als den übrigen Dienstzweigen gleichberechtigt anerkannt und geregelt. An die Stelle dieser seit 1871 für das ganze deutsche Heer maßgebenden Instruktion traten 1876 die "Vorschriften über das Turnen der Infanterie", die 1886 in veränderter Form erschienen. Entsprechend traten an die Stelle der "Instruktion für den Betrieb der Gymnastik bei den Truppen zu Pferde" vom Jahr 1869 die "Vorschriften über das Turnen der Truppen zu Pferde" vom Jahr 1878.

[Vereine.] Auch das Vereinsturnwesen hat seit den 40er Jahren mehr und mehr an Boden gewonnen, am raschesten in Sachsen, am Mittelrhein und in Württemberg; dasselbe ist auch auf die Einführung des Jugendturnens wie auf die technische Gestaltung des Turnbetriebs von großem Einfluß gewesen. Besondere Anregung für die Vereinsbildung gab, nachdem auch hierin nach 1848 ein Rückschlag eingetreten, der Aufschwung unsers Nationalgefühls im Jahr 1859; die deutschen Turnfeste zu Koburg (1860), Berlin (1861) und Leipzig (1863) gaben unter steigender Beteiligung und Begeisterung dem neuerwachten turnerischen Leben Ausdruck und neue Anregung. Die Anzahl der Vereine war von kaum 100, die sich bis 1859 erhalten hatten, bis 1864 auf 1934 mit gegen 200,000 Angehörigen gestiegen. Die Kriege der nächstfolgenden Zeit wirkten auf die Vereinsthätigkeit hemmend; doch war, während die Statistik von 1869 nur noch gegen 1550 Vereine aufwies, deren Anzahl schon 1876 wieder auf 1789 mit gegen 160,000 Mitgliedern gestiegen und betrug nach stetigem Wachstum 1889 an etwa 3600 Orten 4300 mit gegen 370,000 Mitgliedern über 14 Jahre, darunter 50,000 Zöglinge. An Turnübungen nahmen teil 190,000 unter 18,600 Vorturnern und zwar auch im Winter aus 3400 Vereinen; eigne Turnplätze besitzen 512, eigne Turnhallen 238 Vereine. (Vgl. die "Statistischen Jahrbücher der Turnvereine Deutschlands" von G. Hirth 1863 u. 1865, das dritte "Statistische Jahrbuch" von Goetz und Böhme 1871 und "Turnzeitung" 1889, Nr. 27.) Die große Masse dieser Vereine (zur Zeit 3850) bildet, nachdem sie von 1860 an durch einen ständigen Ausschuß vertreten war, seit 1868 die Deutsche Turnerschaft, deren Grundgesetz 1875 neugestaltet, 1883 und 1887 revidiert worden ist. Dieselbe ist in 17 Kreise geteilt: Kreis I umfaßt den Nordosten, II Schlesien und Südposen, IIIa Pommern, IIIb die Mark, IIIc die Provinz Sachsen, IV den Norden, V Niederweser und Ems, VI Hannover, VII Oberweser, VIII Niederrhein und Westfalen, IX Mittelrhein, X Oberrhein, XI Schwaben, XII Bayern, XIII Thüringen, XIV das Königreich Sachsen, XV Deutsch-Österreich. Jeder dieser Kreise ist in sich besonders organisiert, in Gaue gegliedert und hat an seiner Spitze einen Kreisvertreter. Letztere bilden mit fünf vom Turntag zu wählenden Mitgliedern den Ausschuß der Deutschen Turnerschaft. An der Spitze des letztern stand von 1861 bis 1887 Theodor Georgii (Rechtsanwalt in Eßlingen, geb. 1826 daselbst u. wohlverdient besonders um das schwäbische Turnwesen; vgl. seine "Aufsätze und Gedichte", hrsg. von J. K. Lion, Hof 1885); ihm folgte A. Maul (s. d.). Geschäftsführer der Deutschen Turnerschaft ist seit 1861 der um die deutsche Turnsache hochverdiente Dr. med. Ferd. Goetz (geb. 1826 zu Leipzig, praktischer Arzt in Lindenau, seit 1887 Abgeordneter zum deutschen Reichstag; vgl. seine "Aufsätze und Gedichte", Hof 1885). Aus den Abgeordneten der Deutschen Turnerschaft (auf je 1500 Turner einer) werden die in der Regel alle vier Jahre abgehaltenen Turntage gebildet. Die Turnfestordnung enthält insbesondere die Bestimmungen der Wettturnordnung (s. d.). Weiteres über die Organisation der Deutschen Turnerschaft s. Goetz, Handbuch der Deutschen Turnerschaft (3. Ausg., Hof 1888). Das vierte deutsche Turnfest hat 1872 in Bonn stattgefunden, das fünfte 1880 in Frankfurt, das sechste 1885 in Dresden, die letztern beiden von 9800, resp. 18,000 Turnern besucht und große Fortschritte in den vorgeführten Leistungen aufweisend. Das siebente, 1889 in München abgehaltene war von 21,000 Turnern besucht.

Leibesübungen außerhalb Deutschlands.

Die Wiederbelebung der Gymnastik in der deutschen T. hat auch den meisten Kulturländern außerhalb Deutschlands zu geregelter Pflege der Leibesübungen die Anregung und vielfach auch den Stoff gegeben; insbesondere sind der Aufschwung des deutschen Vereins- und Schulturnens seit dem Jahr 1859 sowie Deutschlands Kriegserfolge in den darauf folgenden Jahren, vielfach auch die Gründung von Turnvereinen durch Deutsche im Ausland die Veranlassung gewesen, sich in Förderung und Betrieb von Leibesübungen mehr oder minder eng an das Vorbild des deutschen Turnens anzuschließen. Schon die Wirksamkeit von Guts Muths hat im Ausland kaum weniger Nachfolge gefunden als bei uns. So haben vor allem in Dänemark die Leibesübungen nach seinem Vorbild durch F. Nachtegall früh Eingang und seitdem in Schule und Heer, weniger im Vereinsturnen, Verbreitung gefunden. Schon 1827 wurde hier Turnunterricht für alle Knabenschulen vorgeschrieben. Auf in Dänemark erhaltenen Anregungen fußend, hat in Schweden P. H. Ling (s. d.) ein eignes System der Gymnastik aufgestellt, das bei uns so genannte schwedische Turnen, aber im Gegensatz zu der aus lebendiger Praxis herausgewachsenen deutschen T. auf Grund von dürren, scheinwissenschaftlichen anatomischen und physiologischen Spekulationen. Dasselbe hat, abgesehen von seiner Verwendung als Heilgymnastik (s. d.), außer Schweden vorübergehend durch Rothstein (s. d. und oben) in Preußen Eingang gefunden. An den Schulen Schwedens, wenigstens den höhern, werden jetzt die Leibesübungen, und zwar nicht mehr in der vollen Einseitigkeit des Lingschen Systems, in ausreichenderer Zeit gepflegt als in Deutschland; auch werden sie hier und in Norwegen durch Vereine (in Schweden i. J. 1885: 46 mit 2500 Mitgliedern) betrieben. Am unmittelbarsten ist mit der Entwickelung der deutschen T. außer den Erziehungsanstalten der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands das Turnwesen Österreichs und der Schweiz Hand in Hand gegangen. In den deutschen Ländern Österreichs, vor allen in Siebenbürgen, wurde das Turnen nach den Befreiungskriegen vereinzelt in Schulen und Vereinen gepflegt; das Mißtrauen der Behörden wich auch hier nach 1848 allmählich einer wohlwollenden Duldung, bis der Turnunterricht seit 1869 an allen Knabenvolksschulen, fast allgemein an den Realanstalten und zumeist an den Gymnasien gesetzlich eingeführt wurde. Dies war auch hier wesentlich mit eine Folge großer Verbreitung und rühriger Thätigkeit der Turnvereine seit 1860. Letztere blieben mit der deutschen Turnerschaft (als deren XV. Kreis, s. oben) dauernd