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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Arbeiterversicherung

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Arbeiterversicherung (deutsches Reichsgesetz vom 22. Juni 1889)

Arbeitsstunden von Frauen und jugendlichen Personen bis auf 13 Stunden an 6 aufeinander folgenden Wochentagen verlängert werden darf. Frauen dürfen in der Zeit von 4 Wochen nach einer Entbindung nicht beschäftigt werden. Die Sonntagsarbeit von Frauen und jugendlichen Arbeitern unter 16 Jahren ist verboten. Doch kann sie für bestimmte Betriebe und für männliche Personen von 14-16 Jahren bis 6 Uhr morgens gestattet werden. Ebenso können jugendliche Personen zur Reinigung von Dampfkesseln auf Grund einer Dispensation Sonntags verwandt werden. Zum Zweck der Kontrolle werden die Leiter von Betrieben und Unternehmungen verpflichtet, Arbeitskarten für jugendliche Personen und Arbeiterverzeichnisse zu führen. Mit der Aufsicht über die Ausführung des Gesetzes werden 3 Fabrikinspektoren betraut, welche jährlich einen den Generalstaaten vorzulegenden Bericht über ihre Wirksamkeit an den Minister zu erstatten haben. Übertretungen des Gesetzes werden mit Haft bis zu 14 Tagen oder mit Geldstrafe bis zu 75 Gulden bedroht. Vgl. Theinert u. Streißler, Nachschlagebuch der Arbeiterschutz-Gesetzgebung (Leipz. 1889).

Arbeiterversicherung (Gesetz vom 22. Juni 1889, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung). In der kaiserlichen Botschaft vom 17.Nov.1881 war auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, auch denjenigen, welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig geworden seien, ein höheres Maß staatlicher Fürsorge zu teil werden zu lassen. Nachdem inzwischen die Krankenversicherung (s.Krankenkassen, Bd. 10) und die Unfallversicherung (s. d., Bd. 15) gesetzlich geregelt worden war, wurden von der Reichsregierung 17. Nov. 1887 »Grundzüge« zu einer Alters- und Invalidenversicherung für die deutschen Arbeiter zu dem Zweck veröffentlicht, eine Besprechung derselben in den weitesten Kreisen zu veranlassen.Die Versicherung sollte eine zwangsweise sein, die zu gewährenden Renten waren einheitlich für ganz Deutschland und alle Arbeiter bemessen, die Kosten sollten je zu einem Drittel vom Arbeiter, vom Arbeitgeber und vom Reiche gedeckt werden. Die Verwaltung war den für die Unfallversicherung gebildeten Berufsgenossenschaften als »Trägern der Versicherung« zugedacht. Für jede Berufsgenossenschaft sollte eine besondere Versicherungsanstalt mit Vertrauensmännern eingerichtet werden. Für diejenigen Arbeiter, welche einer solchen Genossenschaft nicht angehörten, sollten an deren Stelle die weitern Komunmalverbände treten. Die Grundzüge begegneten einem lebhaften Widerspruch. Die Notwendigkeit einer Versicherung wurde zwar allgemein zugegeben, bekämpft dagegen wurden vornehmlich die Gewährung eines Reichszuschusses, die Übertragung der Versicherung an die Berufsgenossenschaften und die Art der Rentenbemessung. Statt der Einheitsrente wurde »Individualisierung« verlangt, d. h. die Rente sollte sich mehr dem seither bezogenen Lohn der einzelnen Arbeiter anschmiegen. Die einen schlugen zu dem Ende die Bildung von Ortsklassen vor, indem die Rente mit gewissen Abstufungen nach dem Orte der Arbeit verschieden bemessen werden sollte, die andern empfahlen dagegen, Lohnklassen der Versicherung zu Grunde zu legen, welchen die einzelnen Arbeiter, ganz unabhängig von dem Ort, wo sie arbeiteten, nach der Höhe ihres wirklichen Verdienstes einzureihen seien. Statt der Berufsgenossenschaften wurden von mehreren Seiten örtlich abzugrenzende Anstalten in Vorschlag gebracht, welche alle in ihrem Gebiet beschäftigten versicherungspflichtigen Arbeiter umfassen sollten. Gegen die Genossenschaften wurde insbesondere geltend gemacht, daß dieselben keine feststehenden Einrichtungen, vielmehr je nach Änderungen der Industrie dem Wandel unterworfen seien, dann daß dieselben, weil über große Bezirke, zum Teil über ganz Deutschland verbreitet, mit zu großen Kosten arbeiteten, indem auf einem und demselben Gebiet verschiedene Verwaltungen für den gleichen Zweck wirkten.

Dazu kamen noch politische Gründe, welche allerdings nicht immer offen vorgetragen wurden. Der Reichszuschuß war mit dem Hinweis auf die durch die Versicherung herbeigeführte Entlastung der Armenpflege sowie darauf begründet worden, daß eine Versorgung vieler Arbeiter schon in kürzerer Frist nötig werde, ohne daß für dieselben seither Beiträge gezahlt worden seien oder fortan die versicherungstechnisch nötigen Beiträge entrichtet werden könnten. Die Gegner des Reichszuschusses stützten ihre Anschauungen teils auf Gründe der Politik und der Finanzverwaltung, teils auf solche allgemein volkswirtschaftlicher Natur.

Man befürchtete, es möchten immer weiter gehende Anforderungen an die Hilfe des Reichs gestellt und insbesondere mit der noch einzuführenden Witwen- und Waisenversicherung die Last für das Reich zu groß werden. Dann verlangte man, es sollten die Kosten der einzelnen Wirtschaftszweige von diesen selbst, bez. von den Warenkäufern getragen, nicht aber auf andre Schultern übergewälzt werden. Hierauf wurde im Juni 1888 von der Reichsregierung ein Gesetzentwurf veröffentlicht, in welchem von den Berufsgenossenschaften Abstand genommen und für Bemessung der Rente die Bildung von Ortsklassen und die Abstufung nach solchen vorgeschlagen worden war. Im wesentlichen an den gleichen Grundgedanken wie dieser Entwurf hielt derjenige fest, welcher im November 1888 dem Reichstag vorgelegt wurde.

Nach eingehenden Beratungen in Kommission und Plenum und nach einer Reihe von Abänderungen, welche im wesentlichen sich auf Rentenhöhe, Wartezeit und Bemessung des Reichszuschusses bezogen, wurde der Entwurf mit einer allerdings nur geringen Majorität angenommen und als Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, 22. Juni 1889 veröffentlicht.

I. Umfang und Gegenstand der Versicherung. Der Versicherungspflicht sind unterworfen vom vollendeten 16. Lebensjahr ab: 1) Personen, welche als Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten gegen Lohn oder Gehalt beschäftigt werden; 2) Betriebsbeamte sowie Handlungsgehilfen und -Lehrlinge (ausschließlich der in Apotheken beschäftigten Gehilfen und Lehrlinge), welche Lohn oder Gehalt beziehen, deren regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt aber 2000 Mk. nicht übersteigt, sowie 3) die gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten Personen der Schiffsbesatzung deutscher Seefahrzeuge und von Fahrzeugen der Binnenschifffahrt. Durch Beschluß des Bundesrats kann die Versicherungspflicht auch auf Betriebsunternehmer, die nicht regelmäßig wenigstens einen Lohnarbeiter beschäftigen, sowie auf solche selbständige Gewerbtreibende erstreckt werden, welche in eignen Betriebsstätten im Auftrag und für Rechnung andrer Gewerbtreibender mit der Herstellung oder Bearbeitung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt werden (Hausgewerbtreibende). Die genannten Betriebsunternehmer sind, wenn kein für sie bindender Beschluß gefaßt wird, zur freiwilligen Selbstversicherung berechtigt. Der Versicherungspflicht sind nicht unterworfen solche Personen, welchen als Entgelt für ihre Be- ^[folgende Seite]