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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Brasilien (Geschichte)

welches im Mai 1885 die Regierung übernommen hatte, war nicht von langem Bestand. Da die Kammern die zur Durchführung der Sklavenbefreiung erforderlichen Mittel (eine Erhöhung der Steuern um 5 Proz. und die Ausgabe von 15 Mill. Staatsrententiteln) nicht genehmigten, forderte Saraiva 17. Aug. seine Entlassung und ward durch den konservativen Senatspräsidenten Cotegipe erseht. Dieser beschränkte 1886 die Sklavenbefreiung auf die sofortige Freilassung aller 60 Jahre alten Sklaven, während die übrigen, in verschiedene Klassen geteilt, erst nach 17 Jahren frei sein sollten; die Sklaveneigentümer sollten entschädigt und zu diesem Zweck die Steuern und Abgaben um 5 Proz erhöht werden; auch sollten die freigelassenen Sklaven, um sich an die neuen Lebensverhältnisse zu gewöhnen, ihren bisherigen Herren noch drei Jahre um geringen Lohn dienen. Die Lösung befriedigte aber wenige, und namentlich die sogen. republikanische Partei, welche zwar noch nicht viele Anhänger im Volk hatte, aber großen Lärm in der Presse machte und dadurch Einfluß gewann, verlangte die sofortige Befreiung aller Sklaven, deren Zahl sich bei einer Bevölkerung von 13 Mill. 30. März 1887 nur noch auf 720,000 Seelen belief. Überall bildeten sich Abolitionsgesellschaften, Sklaven wurden aus öffentlichen Geldsammlungen freigekauft, und viele Sklaven entflohen unter dem Schutz des Publikums ihren Besitzern. Die sonst in B. allmächtigen Pflanzer wagten sich dieser Bewegung nicht ernstlich zu widersetzen. Als nun der Kaiser Dom Pedro II. durch seinen Gesundheitszustand genötigt wurde, wieder eine Reise nach Europa anzutreten, und 30. Juni 1887 die Regentschaft seiner Tochter, der Kronprinzessin Iabel, übertrug, beschloß diese, um ihre Beliebtheit beim Volk zu mehren, die sofortige Durchführung der Sklavenbefreiung; denn die Kronprinzessin war streng ultramontan und begünstigte die Jesuiten, so daß in den von der Herrschaft des Klerus bedrohten bürgerlichen Kreisen die republikanische Partei an Anhang und Einfluß erheblich zunahm. Da der Ministerpräsident Cotegipe sich weigerte, zur sofortigen gänzlichen Sklauenemanzipation die Hand zu bieten, so nahm er seine Entlassung, und der konservative Progerssist João Alfredo Corréa de Oliveira bildete 10. März 1888 ein neues Ministerium, in welchem der eifrige Abolitionist A. Prado Ackerbauminister wurde. Dieser legte 8. Mai 1888 den Kammern einen Gesetzentwurf vor, welcher die Sklavere in B. für erloschen erklärte und nach einer glänzenden Rede des liberalen Abgeordneten Joaquim Nabaco gegen die Sklaverei unter dem Druck der öffentlichen Meinung, welche sich auf einmal mit Begeisterung für die Freiheit der Sklaven erklärte, 10. Mai von der konservativen Zweiten Kammer genehmigt wurde. Der Senat schloß sich dem Beschluß an, und 13. Mai 1888 wurde das Gesetz, welches die Sklaverei in B. ohne Entschädigung gänzlich abschaffte, von der Kronprinzessin sanktioniert und veröffentlicht, was zu großen Festlichkeiten und lebhaftem Jubel im ganzen Reich Anlaß bot. Die Pflanzerpartei suchte ihre Interessen, deren Schädigung durch die Sklavenemanzipation sie nicht zu hindern gewagt hatte, dadurch zu wahren, daß sie, als infolge derselben eine ländliche Arbeitskrise ausbrach, das Ministerium zur Einbringung eines Gesetzentwurfs über »Unterdrückung des Müßigganges« bewog, durch welchen jeder beschäftigungslose Landbewohner zu Zwangsarbeit für die Pflanzer genötigt werden sollte. Auch begünstigte man die Einwanderung von armen, besonders italienischen, Arbeitern, während die Einwanderung von deutschen

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Bauern und Gewerbtreibenden, welche für den Plantagenbau nicht verwendbar waren, nach Möglichkeit, verhindert wurde, ferner wurde die von dem riograndischen Senator Silveira Martins nach jahrelangem Kampf im Senat durchgebrachte Vorlage über Freiheit der Kulten, d. h. Gleichberechtigung aller Bekenntnisse, Zulassung von Mischehen ohne katholische Kindererziehung u. dgl., infolge einer von der Kronprinzessin begünstigten Damenpetition in der Zweiten Kammer vorläufig nicht angenommen.

Der Kaiser kehrte zwar 22. Aug. 1888 von seiner Reise, während deren er in Mailand schwer erkrankt und von zwei Schlaganfällen betroffen worden war, zurück und übernahm wieder die Regierung; doch machte seine Genesung nur langsame Fortschritte, und er mußte die Pflanzerpartei, welche das Ministerium Corréa ganz für sich gewonnen hatte, gewähren lassen. Als indes im Mai 1889 nach der Eröffnung der Kammern das Ministerium Corréa bei den Büreauwahlen, besonders im Senat, eine Niederlage erlitt, weigerte sich der Kaiser, die Kammer aufzulösen, wie das Ministermm verlangte, und berief 7. Juni ein liberales Ministerium unter dem Vorsitz des Vicomte d'Ouro-Preto. Dieses that nichts, um der immer heftiger auftretenden republikanischen Agitation entgegenzutreten, welche sich durch den Übertritt zahlreicher zu Grunde gerichteter Pflanzer und durch die Unbeliebtheit der Kronprinzessin und ihres Gemahls, des Grafen d'Eu, noch verstärkte. Früher eifrige Vorkämpfer der Sklavenbefreiung, wußten sich die Republikaner nun die Unzufriedenheit über deren Folgen mit Geschick zu nutze zu machen. Mit großer Geschwindigkeit entstanden und verbreiteten sich republikanische Zeitungen, und republikanische Adressen wurden von Studenten und Kadetten massenhaft unterzeichnet. Schon im Dezember 1888 hatte bei einer Doktorpromotion ein Professor der Medizin den anwesenden Kaiser zur Einführung der Republik aufgefordert, und als im Mai 1889 der Graf d'Eu als Oberbefehlshaber des brasilischen Heers in Rio einer Sitzung des Klubs der Voluntarios de Patria beigewohnt hatte, wurde er beim Weggehen aus der aus aktiven oder ehemaligen Militärs bestehenden Versammlung mit dem höhnischen Nuf: »Es lebe die Republik!« begrüßt. Ja, sogar in der Kammer schloß ein bisher konservativer Abgeordneter seine Rede mit den Worten: »Nieder mit der Monarchie! Es lebe die Republik!« Das Ministerium suchte die republikanische Bewegung durch weitgehende Reformen zu bekämpfen, wie Erweiterung des Wahlrechts, Freiheit der Kulte und des Unterrichts, volle Autonomie der Munizipien und Provinzen, Erleichterung des Grunderwerbs u. dgl. m. Bei den Neuwahlen für die Kammer im August erlangte das Ministerium noch eine bedeutende Mehrheit. Die Zahl der gewählten Republikaner war gering. Inzwischen aber gewannen die Republikaner zahlreiche unzufriedene Offiziere für sich, namentlich den Marschall Deodoro da Fonseca; dieser war wegen eines Putsches gegen die konservative Regierung nach Mato Grosso versetzt worden. Das liberale Ministerium rief ihn nach der Hauptstadt zurück und ließ es geschehen, daß er die Truppen für eine republikanische Umwälzung gewann. Heer und Flotte besaßen gar keine Anhänglichkeit an den Kaiser, der sich nie um dieselben gekümmert hatte. Vergeblich forderte der Kaiser, der die Gefahr dieser Wühlereien erkannte, einen umfassenden Garnisonswechsel; das Ministerium glaubte durch Verstärkung der Polizei in der Hauptstadt die Monarchie sichern zu können, steigerte aber dadurch nur die Erbitterung der aufgehetzten