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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Bulgarien (Geschichte 1886, 1887)

21. Aug. für ein abscheuliches Verbrechen erklärte und ihrer Bewunderung für die patrotische Selbstverleugnung des Fürsten Alexander Ausdruck gab. Eine Anleihe von 15 Mill. wurde bewilligt und die Absicht der Regentschaft, die große Sobranie zur Neuwahl eines Fürsten zu berufen, gutgeheißen. Die russische Regierung schickte nach der Abdankung des Fürsten Alexander den bisherigen Militärbevollmächtigten in Wien, General v. Kaulbars (Bruder des ehemaligen bulgarischen Kriegsministers), nach B., um die dortigen Verhältnisse nach ihren Wünschen zu ordnen. Kaulbars behandelte die bestehende Regierung nur als eine unberechtigte Parteiregierung und trat daher als Herr aus. Er ließ sich 25. Sept. in Sofia von den Russenfreunden mit einer Ansprache empfangen, in welcher die Regenten und Minister als Landstreicher und Kanaillen bezeichnet wurden, richtete und veröffentlichte ein Rundschreiben an die russischen Konsuln mit Beschuldigungen gegen die Regierung und stellte an diese 26. Sept. die Forderung, daß der Belagerungszustand sofort aufgehoben, die auf den 10. Okt. festgesetzten Wahlen zur großen Sobranie verschoben würden, weil Rußland eine unter den gegenwärtigen Verhältnissen gewählte Sobranie nicht als gesetzlich ansehen könne (Rußland fürchtete nämlich die Wiederwahl Alexanders), und daß alle verhafteten Teilnehmer am Staatsstreich vom 21. Aug., auch die Offiziere, bedingungslos freigelassen werden müßten. Die Regierung hob 1. Okt. den Belagerungszustand auf und versprach auch, auf die Wiederwahl des Fürsten Alexander verzichten zu wollen, obwohl das Volk sie wünschte. Die beiden andern russischen Forderungen lehnte sie ab; die Wahlen zur Sooranie wurden auf 10. Okt. festgesetzt. Kaulbars verließ Sofia, und der russische Agent Neklindow brach 10. Okt. die diplomatischen Beziehungen zur bulgarischen Regierung ab. Diese mußte auf eine direkte russische Einmischung gefaßt sein, aber die Anmaßung des Generals Kaulbars zwang sie zur Einigkeit und Entschlossenheit, und die Bemühungen des russischen Vertreters, Beamte, Offiziere und Bevölkerung zum Ungehorsam gegen sie aufzureizen, waren meist vergeblich, sowohl in der Hauptstadt als in der Provinz, in welche sich Kaulbars Anfang Oktober begab. Er mußte sich überzeugen, daß der Glaube, an welchem die Russen hartnäckig festhielten, daß nämlich nur die Ränke des Fürsten und seiner wenigen Anhänger die Bulgaren abhielten, sich Rußland wieder in die Arme zu werfen, irrig war. Die Wahlen zur Sobranie fielen besonders in Ostrumelien durchaus nach Wunsch der Regentschaft aus; bloß etwa 20 Zankowisten wurden gewählt. Nur wenige bulgarische Politiker von Bedeutung, wie Karawelow, hielten angesichts des Verhaltens Rußlands an der Notwendigkeit und Möglichkeit des Anschlusses an dasselbe fest. Die Hetzereien und Wühlereien von Kaulbars bei den Truppen blieben nicht ganz ohne Erfolg; es bildeten sich unter der Leitung von Russen Verschwörungen gegen die Regentschaft, welche aber entdeckt und bestraft wurden, worüber sich Kaulbars als über eine schreiende Ungerechtigkeit beschwerte. Endlich gab Kaulbars seine fruchtlose und wenig ehrenvolle Thätigkeit auf und erklärte 18. Nov. in einer Note an die bulgarische Regierung, daß er abreisen werde, da sie keinen Ratschlag Rußlands befolgt, namentlich die Sobranie ungeachtet des russischen Einspruchs berufen habe; die gegenwärtige Regierung habe das Vertrauen Rußlands verloren und die Fortdauer der Beziehungen unmöglich gemacht, solange die bulgarische Regierung aus den gegenwärtigen Mitgliedern zusammen-

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gesetzt sei. Wirklich reisten er, das Personal des russischen Generalkonsulats und sämtliche russische Konsuln 20. Nov. ab.

Inzwischen war die Sobranie 31. Okt. in Tirnowa eröffnet worden und hatte 10. Nov. auf Vorschlag der Regentschaft einstimmig den Prinzen Waldemar von Dänemark, Schwager des Zaren, zum Fürsten erwählt, in dessen Namen der König von Dänemark die Wahl sofort ablehnte. Nachdem dieser letzte Annäherungsversuch an Rußland mißlungen war, nahm Karawelow seine Entlassung; an seiner Stelle wurde Ziskow zum Regenten gewählt. Die Sobranie beschloß, nun eine Deputation an die Signatarmächte zu senden, um ihre Ansichten über die Lage und den Namen eines tauglichen Thronkandidaten zu erfahren. Dieselbe trat 2. Dez. ihre Reise nach Wien, Berlin, London, Paris, Rom und Konstantinopel an, empfing aber überall den Bescheid, daß vor allem die Aufrechterhaltung des Friedens ein europäisches Bedürfnis und daher eine Verständigung Bulgariens mit Rußland wünschenswert sei. Diese war aber für die Regentschaft unmöglich, da Rußland für sie unnahbar war und der durch die Vermittelung der Pforte kundgewordene Wunsch des Zaren, daß der Prinz Nikolaus Dadian von Mingrelien, ein unbedeutender Mensch, zum Fürsten von B. gewählt werde, nicht ernst genommen werden konnte. Überdies setzten die russischen Agenten ihre Wühlereien bei den Truppen in B. fort und zettelten Verschwörungen und Aufstandsversuche an, so in Burgas, in Silistria, namentlich aber in Rustschuk, wo der Kommandant Usunow einen Teil der Garnison für sich gewann, 3. März 1887 den Präfekten und die treuen Offiziere verhaftete und eine neue Regentschaft unter dem Metropoliten Klemens proklamierte. Aber zwei treugebliebene Bataillone unter Hauptmann Vulkow überwältigten im Verem nnt der Bürgermiliz die Aufrührer; 16 Offiziere wurden zum Tod verurteilt, 9 davon, unter ihnen Usunow, 6. März erschossen, der russische Unterthan Kapitän Bollmann wurde dem deutschen Konsul, der die Vertretung Rußlands übernommen, ausgeliefert; die gemeinen Soldaten wurden melst begnadigt, die Unteroffiziere zu Kerkerhaft verurteilt. Mit gleicher Strenge wurde in andern Orten gegen alle der Verschwörung Verdächtigen verfahren. In Rußland geriet man über die Energie der Regentschaft in äußerste Wut, und die russischen Agenten, welche selbst Mordversuche auf bulgarische Beamte nicht verschmähten, setzten unter Leitung des russischen Gesandten in Bukarest, Hitrowo, ihr Werk, wenn auch ohne Erfolg, fort; im Januar 1688 unternahm der ehemals russische Offizier Nabokow sogar einen allerdings fruchtlosen Landungsversuch in Burgas.

Das bulgarische Volk besaß noch so viel Anhänglichkeit an den Fürsten Alexander, daß es diesen am liebsten wieder zum Fürsten gewählt hätte; auch die Minister Radoslawow und Nikolajew waren dafür, daß Alexander wenigstens der Thron offen gehalten werde. Die Regenten aber wünschten eine baldige definitive Fürstenwahl, und die zu diesem Zweck zusammenberufene Sobranie wählte 7. Juli 1887 einstimmig den Prinzen Ferdinand von Koburg aus der katholischen Linie Koburg-Kohary zum Fürsten. Der Prinz zögerte mit der Annahme bis 10. Aug.; dann erst reiste er nach B., leistete 14. Aug. in Tirnowa den Eid auf die Verfassung und nahm durch eine Proklamation an das Volk vom Thron Besitz; 22. Aug. hielt er seinen feierlichen Einzug in Sofia und ernannte Stambulow zum Präsidenten eines neuen