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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Elektrotherapie (Fortschritte).

Durch diese nur skizzierten Fortschritte der Methodik und die Vervollkommnung der zur Erzeugung, Abstufung, Einschleichung und Messung dienenden Vorrichtungen (Elemente, Elementenzähler, Rheostate, Galvanometer etc.) ist die galvanische Behandlung in ihren Erfolgen sehr viel sicherer zu beherrschen und sind gewisse Gefahren (Schwindelerscheinungen, Ohnmachtsanfälle etc.), welche unvorsichtige, nicht fachmännische Anwendung besonders auf die Zentralorgane bieten kann, viel leichter zu vermeiden. Dagegen ist man von einem vollen Verständnis der wesentlich empirischen Heilwirkungen noch immer weit entfernt. Man nimmt auf Grund derselben je nach besondern Anwendungsformen schmerzstillende, beruhigende und umstimmende Wirkungen bei Neuralgien und einzelnen Zitter- und Krampfformen, belebende und erfrischende Wirkungen bei Lähmungen, Muskelschwund, Ataxie etc. an. Die durch die wiederholte galvanische Durchströmung erkrankter Organe erzielten definitiven Heilerfolge werden auf die von R. Remak zuerst aufgestellten und begründeten sogen, katalytischen (auflösenden, zerteilenden) Wirkungen auf allerlei Gewebsanschoppungen und Ausschwitzungen (Exsudate) zurückgeführt. Sie erklären die oft überraschend schnellen Erfolge bei akuten rheumatischen Gelenk- und Muskelerkrankungen und die langsamen auf die Rückbildung von organischen Rückenmarks- und Gehirnerkrankungen. Neuerdings sind sie auch für andre als die Bewegungs- und Nervenorgane, z. B. bei gewissen Frauenkrankheiten, hier mit sehr erheblichen Stromstärken, mit Vorteil verwertet worden (Apostoli, Engelmann u. a). Dieses Verfahren nähert sich durch die Einführung des einen galvanischen Pols in die Schleimhäute einigermaßen der Zuleitung galvanischer Ströme mittels eingestochener Nadeln (Elektrolyse) zur Zerteilung von Geschwülsten und zur Einleitung der Gerinnung des Bluts in Aneurysmen.

Da es sich häufig um die Behandlung chronischer (funktioneller und organischer), nur langsamer Besserung fähiger Erkrankungen handelt, so erfordern die elektrischen Kuren mit täglichen oder jeden zweiten Tag wiederholten Sitzungen große Ausdauer und Geduld. Sie sollten, da sie ein schwieriger Teil der ärztlichen Kunst sind und auf die empfindlichsten Körperorgane einwirken, mitunter auch die Verbindung mit andern innerlichen oder äußerlichen Verordnungen erheischen, nur von sachverständiger ärztlicher Hand unternommen werden. Der geringste Schade, welcher dem Patienten durch laienhafte Versuche aufs Geratewohl erwächst, ist der, daß ein bei fachmännischer Verwendung unter Umständen segensreiches Heilmittel dadurch bei ihm in Mißkredit gerät.

Auch die Behandlung mittels des induzierten (faradischen) Stroms (Faradotherapie), welche von Duchenne in verschiedener Weise, einmal als lokalisierte (örtliche) Faradisation der Nerven und Muskeln mittels feuchter Elektroden, ferner aber zur Hautreizung bei Gefühlsstörungen etc. als faradische Pinselung und Geißelung mittels trockner Drahtpinsel, begründet wurde, hat ebenfalls einige Erweiterungen erfahren. Zunächst werden letzterer Behandlungsmethode einige Erfolge bei chronischen Rückenmarks- und Gehirnkrankheiten nachgerühmt, welche wahrscheinlich auf reflektorische Wirkungen auf die Zentralorgane zurückzuführen sind (Rumpf u. a.). Als weitere Errungenschaft ist die von Amerika aus von Beard und Rockwell zuerst empfohlene allgemeine Faradisation zu erwähnen. Bei derselben werden methodisch sämtliche Teile des Körpers mit

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dem einen Pol bestrichen (bei entsprechender Regelung der Stromstärke), während der andre Pol als Fußplatte oder Gesäßplatte den Strom schließt. Es hat dieses allgemein erfrischende Verfahren häufig unverkennbar günstige Wirkungen auf den Schlaf, Appetit, die Verdauung, die Allgemeinernährung, Stimmung und geistige Leistungsfähigkeit, so daß es namentlich für die Behandlung derjenigen Nervenkrankheiten, welche die erschöpfende Thätigkeit unsers Jahrhunderts nur zu häufig mit sich bringt (Neurasthenie, Hysterie, gewisse Formen der Hypochondrie), oft sehr günstigen Erfolg aufzuweisen hat.

Als Ersatz dieser Methode sind hydroelektrische Bäder (elektrische Wasserbäder) neuerdings eingeführt worden, bei welchen elektrische Ströme (faradische oder galvanische) dem menschlichen Körper mittels des warmen Wasserbades in geeignet konstruierten Badewannen zugeleitet werden. Je nachdem beide Pole in die Badeflüssigkeit eintauchen, der Strom also ausschließlich vermittelst des Wassers dem Körper zugeführt wird, oder die Badeflüssigkeit nur den einen Zuleitungspol aufnimmt, während mit dem andern Pol der Körper des Badenden direkt berührt wird (am besten mit der sogen. Rückenkissenelektrode), unterscheidet man dipolare oder monopolare elektrische Bäder (A. Eulenburg). Über die Vorzüge der einen oder andern Badeform sind die Akten noch nicht geschlossen. Übrigens werden auch galvanische Ströme zu elektrischen Wasserbädern verwendet, und man spricht dann bei monopolarer Anwendung je nach dem in das Nasser tauchenden Pol von monopolarem Kathodenbad oder Anodenbad. Namentlich letztere dürfen aber nicht ohne genaue Berücksichtigung der Stromstärke durch galvanometrische Messung verabfolgt werden. Beiläufig ist wahrscheinlich, daß die Art der Einwirkung von dem den Patienten direkt berührenden Pol abhängt und dic Badeflüssigkeit nur als unendlich großer indifferenter Pol zu betrachten ist. Die elektrischen Bäder eignen sich nahezu für dieselben nervösen Allgemeinerkrankungen, für welche die allgemeine Faradisation angewendet wird, und Erfolge wurden namentlich, bei Neurasthenie, nervöser Dyspepsie (Verdauungsstörung), gewissen Zitterformen und bei Hysterie beobachtet. Aber selbst in gut eingerichteten Anstalten mit dem nötigen Instrumentarium und bei ärztlicher Beaufsichtigung sind vermöge der komplizierten Leitungsbedingungen die Einwirkungen nicht so genau zu berechnen wie bei örtlicher Anwendung elektrischer Ströme ohne Wasserbad. Letztere Methode verdient aber allemal den Vorzug, wenn ein bestimmter Sitz der Krankheit angenommen werden darf.

Auch die älteste Art der Anwendung der Reibungselektrizität der Elektrisiermaschine, der statischen Elektrizität oder der Spannungsströme (Franklinisation oder Franklinotherapie) hat, nachdem durch Erfindung der Influenzmaschinen und sonstige Vervollkommnung der Apparate der gleichmäßige Gang der elektrischen Ladung verbessert worden ist, zunächst von Paris aus seit etwa zehn Jahren (Charcot, Vigouroux), anfänglich nur für hysterische Erkrankungen, dann auch für andre funktionelle Nervenerkrankungen, wieder einige Anhänger gefunden. Das elektrostatische Bad oder Luftbad besteht in einer 1/4-1 Stunde durchgeführten Ladung des auf dem Isolierpodium sitzenden und mit den Füßen seine Metallbelegung berührenden, bekleideten Patienten mit positiver oder negativer Elektrizität, während eine über dem Kopf in einiger Entfernung befindliche sogen. Kopfglocke