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Englische Litteratur (Entwickelung seit 1884: Lyrik und Epik, Drama)
Dichtung.
(Über die mit * bezeichneten Schriftsteller sind die betreffenden Biographien in vorliegendem Band zu vergleichen.)
Der Tod Robert Brownings, das hohe Alter Lord Tennysons erinnern daran, daß sich noch kein junger Nachwuchs zu ihrer Geltung erhoben hat. Von jenem erschien am Anfang unsers Zeitraums »Tiresias, and other poems«, dem trotz einiger sehr schöner Stücke, wie des kraftvollen »Despair«, kaum ein Achtungserfolg beschieden war, später ein Seitenstück und Widerspiel zu seinem jugendlichen »Locksley hall«. »Sixty years after« (durch Johann Feis trefflich verdeutscht und mit Freiligraths Übersetzung des frühern Gedichts zusammen abgedruckt), endlich 1887 eine »Jubilee ode«, wozu ihn seine Stellung als Hofpoet ebensowohl wie seine warme Verehrung der Königin veranlassen mochte, Lewis Morris, durch Früheres bereits vorteilhaft bekannt, hat neuerdings seinen Verehrern »Songs of Britain« dargeboten. Er darf nicht mit William Morris verwechselt werden, einem erklärten u. selbst agitatorischen Sozialisten (nebenbei Leiter einer auf die Darstellung des Künstlerisch-Schönen gerichteten Möbelfabrik), der eine Übersetzung der »Odyssee« (1887) veröffentlichte. Der Republikaner Algernon Swtnburne, der nunmehr seine früher sehr weit getriebene »Fleischlichkeit« abgelegt hat, bot dem Publikum eine wohlgesäuberte Auswahl seiner Dichtungen (»Selections from the poetical works«). Von ihm sind auch noch der »Midsummer holiday« und eine dritte Serie von »Poems and ballads« zu verzeichnen. An Schwung und Klang der Verse übertrifft er alle seine englischen Zeitgenossen, doch fehlt es auch ihm an gelegentlicher Dunkelheit des Ausdrucks nicht. Edwin Arnold, dessen »Light of Asia« von Arthur Pfungst (1887) ins Deutsche übertragen wurde, hat den »Indian idylls« einen Band »Lotus and Juwels« (1887) folgen lassen und neuerdings, an den Tod seiner vielgeliebten Gattin anknüpfend, den Band »In my Lady's praise« (1889) veröffentlicht, der neben einigem Gekünstelten manches Wahre und Warme von großer Schönheit enthält. Lord Lytton, Sohn des unter seinem frühern Namen Lytton Bulwer auch in Deutschland hochgeschätzten Romanschriftstellers, ist seit langen Jahren ebensowohl als Dichter (unter dem Namen Owen Meredith) wie als Politiker bekannt, hat es aber in der erstern Eigenschaft nicht auf die Höhe gebracht, zu welcher die Politik ihn erhoben. Sein Epos »Glenaveril«, in Form und teilweise satirischer Richtung ein Nachbild von Byrons »Don Juan«, den es freilich an schneidender Kraft und hoher Schönheit nicht erreicht, zeigt in gewissen Verschlingungen und Hinblicken auf soziale Zustände unsrer Tage immerhin einige Selbständigkeit und Frische. Zu einer andern Dichtung: »After paradise, or legends of exile« haben ihm Episoden aus der Geschichte unsrer Zeit als Vorwurf gedient. George Meredith, der in der Romanlitteratur jedenfalls einen hoben, nach Ansicht seiner Verehrer sogar den höchsten Rang einnimmt, übrigens zu seinem eben genannten Namensvetter in keinerlei Beziehung steht, hat seinen »Poems and lyrics of the joy of earth« nun auch einen Band »Ballads and poems of tragic lite« folgen lassen und in neuester Zeit einen weitern beigefügt: »A reading of earth«. Leider gefällt er sich auch hier in Dunkelheit des Ausdrucks. Von Robert Browning, dem kürzlich verstorbenen Meister dieses schweren Übels neuenglischer Dichtung (als dessen Urheber doch wohl Shelley anzusehen ist), erschienen »Ferishta's fancies«, persische Geschichten (1885), und »Parleyings
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with certain people of importance in their day« (1887). Eine »Popular edition« seiner Werke (in 16 Bänden) begann 1888 zu erscheinen. Ein Ehrenplatz gebührt einer Dichterin deutscher Abkunft, Mathilde Blind, die in »The heather on fire« (1887) die Geschichte der Austreibung hochschottischer Hüttenbewohner mit revolutionärem Feuer erzählt, in dem größern philosophischen Gedicht »The ascent of men« (1889) aber sich zu einer höhern Stufe aufschwingt. Hieran schließe sich ein andres großes Thema: »The judgement of Prometheus« von Ernest Myers, der schon früher Lyrisches geliefert hat, übrigens zur Geisterseherei hinneigt. Von leichterm Gewebe sind des auf vielen Feldern thätigen R. L. Stevenson »Underwood« (1887), dessen Titel er dem alten Bell Jonson abgeborgt, und des Fräuleins Mary J. * Robinson »Songs, ballads and a garden play« (1888). Die große Reihe poetischer Gaben, die nur auf das dringende Verlangen von Freunden der Dichter veröffentlicht werden, dürfen wir billig übergehen.
Drama.
Es ist keine neue Bemerkung, daß in der Heimat Shakespeares das Drama als Buch, ebenso wie das Epos, von dem weithin greifenden Roman in den Hintergrund gedrängt worden ist. Die Theater blühen mehr und mehr; aber die aufgeführten Stücke werden selten gelesen, erscheinen meistens gar nicht im Buchhandel, während auf der andern Seite die selten erscheinenden Buchdramen gar nicht auf die Bühne gelangen oder dort einen höchst spärlichen Erfolg haben, ihn meistens auch kaum verdienen. Es sei als Verfasser solcher Lesedramen zunächst ein neuer Schriftsteller genannt, der sich noch unter dem Pseudonym Michael Field verbirgt. Er hat der altenglischen Geschichte und dem Kampf der Religionen einen bedeutenden, schwer zu behandelnden Stoff entnommen:»Canute the Great«, und in der Lösung seiner Aufgabe Geist, Kraft und künstlerische Gestaltung erwiesen, auch die wohlberechtigte Anerkennung gefunden. Auch seine andern Dramen: »Callirhoe«, »Fair Rosamund«, ein Vorwurf (die Geliebte König Heinrichs II.), der so oft den Balladendichter und seit Addison auch den Dramatiker angezogen hat, »Brutus ultor«, »The father's tragedy«, »Rufus«, »Loyalty and love«, alle seit 1884 erschienen, verdienen Erwähnung. Der greise Tennyson erschien abermals mit einem Drama: »Becket« (Thomas a Becket), hat damit aber fast noch weniger Erfolg erzielt als mit seinen frühern Stücken aus der englischen Geschichte, und auch der vorübergehende Theatererfolg von »The cup« ist wohl meist auf Rechnung des Schauspieldirektors Irving zu setzen, der eine glänzende Bühnenausstattung lieferte; ebenso hatte »The promise of May« nur einen Achtungserfolg. Bedeutender sind dagegen die Stücke Swinburnes. Nachdem er seinen großen Dramencyclus über Maria Stuart, der ihn 20 Jahre lang beschäftigt hatte, beendet, trat er als Rival des Lord Byron auf mit »Marino Faliero«. Vielleicht ist dieses Trauerspiel noch weniger als das seines großen Vorgängers für die Bühne geeignet, aber wie jenes enthält es sehr glänzende Stellen. Mit seinem neuesten Drama: »Locrine«, greift er, wie Shakespeare im »Cymbeline«, auf die schattenhafte altbritische Geschichte zurück. In derselben Richtung seien erwähnt: »The sentence«, ein Trauerspiel aus der Zeit des Caligula, von Augusta Webster, die auch als lyrische Dichterin einen guten Namen hat, und des vielthätigen Alfred Austin »Prince Lucifer«. Die Browning-Gesellschaft, nicht ein Theaterunternehmer, hat ihres Meisters