Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Diese Seite ist noch nicht korrigiert worden und enthält Fehler.

338
Frankreich (Geschichte 1888, 1889)
der Kammer ernln^n, verlas er ein ziemlich verworrenes Programm, am 4. Juni stellte er den formellen Antrag auf Verfassungsrevision, welche in der Abschaffung der Präsidentschaft und des Senats und dem Bestätigungsrecht für das Volk< Iteferendum)bestehen sollte! Der Antrag wurde mit 377 gegen 186 Stimmen abgelehnt. Nachdem er sich wieder wochen/l?/^ i/? der Kammer nicht hatte blicken lassen, stellte Boulanger 12. Juli im Namen einer halben Million Wähler den Antrag auf Auflösung der Kammer, die er als unfähig und verderbt aufs heftigste angriff. Der Ministerpräsident Floquet entgegnete, Boulanger stehe am wenigsten eine Kritik der Kammer zu, da er fast nie in der Kammer erscheine, nichts gethan und sich nur in Sakristeien und prinzlichen Vorzimmern herumgetrieben habe. Darauf nannte Boulanger den Minister einen schlecht erlogenen Schulmeister und unverschämten Lügner. Alsmandie Zensur über ihn verhängen wollte, rief er: »Da mir die Freiheit der Tribüne versagt ist, appelliere ich an das Land und gebe meine Entlassung als Abgeordneter!« Er überreichte dem Präsidenten einen Brief und verließ den Saal. Der Brief begann mit den Worten: > Nach Ablehnung meines Antrags^ (über den gar nicht abgestimmt worden war), war also vorher fchon geschrieben. Floquet ließ Boulanger zum Zweikampf fordern und verwundete ihn in diesem 13. Juli nicht ungefährlich. Als sich aber Boulanger im August bei Nachwahlen in drei Departements l Nord, Somme und Nntercharente) zugleich als Kandidat aufstellen ließ, um so wenigstens in beschränktem Kreis ein Pkbiszit für sich zu gewinnen, wurde er 19. Aug. dreimal gewählt. Ein radikaler Deputierter, Numa Gillv, sprach 13. Sept. öffentlich die Behauptung aus, daß im Budgetausschuß noch 30 Wilsonü säßen, und die Menge glaubte chm. Die gemäßigten Republikaner hielten es nun für nötig, den Boulangismus ernstlicher zu bekämpfen, und gründeten zu diesem Zweck die 8c)0i6t6 t!<?8 ä' oit8 de I'lwmm? und den Republikanischen Nationalverein, besonders Ferry trat Boulanger energisch entgegen. Die Radikalen dagegen glaubten dem Boulangismus am sichersten beizukommen, wenn sie ihn überboten. Der Entwurf der Verfassungsrevision, den Floquet 15. Okt. den Kammern vorlegte, ließ zwav den Senat bestehen, gestand ihm aber nur ein aufschiebendes Veto und keine entscheidende Stimmebeiden Finan^gesetzenzu, nahmihmund dem Präsidenten das Recht, die Kammer aufzulösen, verlangte, daß die Minister für einen bestimmten Zeitraum ernannt und vor diesem nur durch ein Mißtrauensvotum zum Rücktritt veranlaßt werden könnten, und setzte einen Staatsrat nit größern Befugnissen ein. Der zumeist aus Radikalen bestehende Reuisionsausschuß beschloß dagegen, daß die Revision von einer hierfür zu wählenden konstituierenden Nationalversammlung vorgenommen, Senat und Präsidentschaft abgeschafft und die neue Verfassung der Volksabstimmung unterworfen werden solle.
Im übrigen beschäftigten sich die Kammern mit der Beratung des Militärgesetzes und des Budgets für 1889, das, auf etwas ülier 3 Milliarden festgesetzt, zur rechten Zeit vor Ablauf des Jahrs 1888 angenommen wurde; es enthielt wiederum eine Erhöhung der Heeresausgaben durch Vermehrung des Präsenzstande^ der Armee. Ein schwerer Schlag für die zahlreichen kleinen Kapitalisten in F.warder Zusammenbruch des Panamaknnal-Unternehmens Ende 1888; da man dem »großen Franzosen« Lesseps ein felsenfestes Vertrauen geschenkt hatte, so waren die Panama-Aktien besonders von kleinen Leuten angekauft
worden; dennoch weigerte sich die Kammer 14. Dez. der Panamagesellschäft in irgend emer Weise zu Hilfe zu kommen. Anfang 1889 folgte sodann die Liquidation des Os»inpt0ii' ä'I^comple, eines großen Geldinstituts, infolge des Kupferkrachs. Tiefe finanziellen Verluste, der'Boulangismus und die nahendo Weltausstellung benahmen dem französischen Volk dic Lust, sich viel mit auswärtiger Politik zu beschäftigen, die daher 1888 keine bedeutenden Ereignisse aufzuweisen hatte. Nachdem der Tod Kaiser Wilhelms I. und die Thronbesteigung Friedrichs III. in F., wo das Publikum ebenso unwissend wie leichtgläubig ist, sanguinische Hoffnungen auf den Wiedererwerb Elsaß-Lothringens erweckt hatten, die freilich bald zu nichte gemacht wurden, beeiferte man fich bei jeder Gelegenheit, die französische Friedensliebe zu versichern. Selbst Boulanger, sogar Deroulede verleugneten ihren frühern Chauvinismus, und sielen einmal herausfordernde Worte, so wurden sie hinterher abgeleugnet. Der an der elsaß-lothringischen Grenze deutscherseits eingeführte Paßzwang wurde zwar in F.fehr übel aufgenommen, aber nur durch das sogen, übrigens Ziemlich harmloseFremdengesetzuom2.Okt. beantwortet. Rußland zu schmeicheln, seine Freundschaft zu gewinnen und sich ihrerzu rühmen, versäumte man keine Gelegenheit. Italien glaubte die Kammer durch Ablehnung des Handelsvertrags einschüchtern und zur Vasallenschaft zwingen zu können, trieb es dadurch aber erlt recht in die Arme des Dreibundes.
Anfang 1889 wurde die öffentliche Meinung in F. von der Frage beherrscht, ob Boulanger bei der am 27. Jan. in Paris stattfindenden Nachwahl, für die er sofort als Kandidat aufgetreten war, siegen werde oder nicht. Vergeblich mahnte der Kammerpräsident Meline bei der Eröffnung der Session Anfang Januar zur Eintracht und zu einer Politik der Beruhigung, vergeblich warnten gemäßigte Politiker vor der Wahl des »Abenteurers« Boulanger als einer Schande für Paris. Am 27. Jan. 1889 wurde Boulanger mit 244,000 von 435,000 Stimmen zum Abgeordneten von Paris gewählt. Es war ein ge< wnltiger Sieg des Boulangismus und eine nicht erwartete schwere Niederlage der Republik. Das Ministerium sah auch die Notwendigkeit ein, zu handeln.
Nm den Plan Boulangers zu vereiteln, durch die feit 1885 eingeführte Listenwahl eine Art Plebiszit für sich zu veranstalten (man nahm an, daß er bei den nächsten Deputiertenwahlen mit Listenskrutinium in 30 Departements gewählt werden würde), beantragte.
Floquet 3l. März die sofortige Wiedereinführung der Arrondissementswahl. Die Kammer genehmigte den Antrag und verschob seinetwegen die erste Beratung der Verfassungsrevision auf den 14. Febr. Als sie ail diesem Tag beginnen sollte, lehnte die Kam? mer einen Antrag des Monarchisten Baron Mackau, die Debatte auf acht Tage zu verschieben, mit 375 gegen 173 Stimmen ab, nadm aber den des Grafen Douville-Maillefeu von der äußersten Linken auf Vertagung bis nach den )ieuwahlen trotz des Widerfpuuche» Floquets mit 307 gegen 218 Stimmen an, worauf Floquet seine Entlassung einreichte. Er stolperte über die ganz überflüssigerweise von ihm in die Hand genommene Verfassungsrevision. Erst 21 Febr. kam ein neues Kabinett, überwiegend aus Opportunisten bestehend, zu stände: Tirard übernahm das Präsidium und Handel, Constans das Innere, Svnller das Auswärtige, Rouvier die Finanzen, Fallieres den Unterricht; Freycinet behielt das Ktiegsm'lmsterium. Das neue Kabinett sollte einen Waffenstillstand im Parteikrieg bis ;u;u den Neuwahlen im Herbst