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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Eis

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Eis (Meer- u. Süßwassereis, Formen des atmosphärischen Niederschlags).

allein folgt schon, daß das erste E., welches sich in der See in arktischen Gegenden bildet, reines E. ist, und es ist ebenso sicher, daß es eine große Menge des zurückbleibenden Seewassers in den Zwischenräumen hält. Während des Winters wird diese eingeschlossene Flüssigkeit zu E. und Kryohydrat, soweit die Temperatur und Beschaffenheit der Salze in Lösung es zulassen. Das Vorhandensein von Sole, die schwer oder gar nicht gefriert, in neugebildetem Seewassereis erklärt seine hohe Plastizität selbst bei sehr niedriger Temperatur. Die Thatsache, daß Kryohydrat von verschiedenen Salzen bei verschiedener Temperatur gefriert und schmilzt, erklärt hinreichend die mannigfache Zusammensetzung verschiedener Proben alten Seeeises. Die bekannte Ausdehnung, welche E., das sich aus gefrierendem Wasser mit irgend etwas Salz bildet, nahe dem Schmelzpunkt erleidet, findet eine genügende Erklärung unter der Annahme, daß das Wasser beim Gefrieren alle salzigen Stoffe von der Teilnahme am Erstarren streng ausschließt.

Die zurückbleibende und nicht gefrierende Sole, welche in beträchtlicher Quantität flüssig bleibt, wenn Seewasser gefriert, muß auch in größerer oder geringerer Menge vorhanden sein, wenn Süßwasser gefriert. Denn alles natürliche Wasser, einschließlich Regenwasser, enthält einige fremde und gewöhnlich salzige Bestandteile. Bedenkt man nun, daß die Gegenwart selbst der geringsten Quantität salziger Stoffe in Lösung die Bildung von E. bei 0° verhindert und das Schmelzen des Eises bei einer Temperatur unter 0° fördert, so sieht man, daß die Ausdehnung des Eises beim Abkühlen wahrscheinlich daher rührt, daß wir es nicht mit homogenem festen E., sondern mit einer Mischung von E. und einer Salzlösung zu thun haben. Fällt die Temperatur, so scheidet diese Lösung mehr und mehr E. aus, das Volumen des Eises wächst. Aber diese Volumenzunahme rührt von der Bildung von E. aus Wasser her, nicht von der Ausdehnung eines bereits gebildeten kristallinischen Körpers. Auch die sehr niedrige latente Wärme, welche bei Seewasser beobachtet wird, findet ihre Erklärung durch die Thatsache, daß das Salz eine beträchtliche Menge Wasser in flüssigem Zustand selbst bei einer Temperatur erhält, die mehrere Grade unter dem Gefrierpunkt destillierten Wassers liegt. Endlich hat die Plastizität des Eises und die Bewegung der Gletscher nichts Befremdendes, sobald man bedenkt, daß, wenn Wasser, aus dem das E. sich bildet, nicht mehr als 7 Teile Chlor auf 1 Mill. ccm enthält, das E. beim Tauen, wenn die Temperatur bis auf -0,07° gestiegen ist, bis zum Betrag von 1 Proz. seiner Masse aus flüssiger Sole oder Wasser besteht. Solches Wasser ist aber sicher nicht weniger frei von fremden Bestandteilen als Regen oder Schnee. Es folgt daher, daß ein Gletscher in einem Klima, wo die Temperatur für den größten Teil des Jahres über 0° liegt, eine Tendenz zum Fließen haben muß infolge der Fähigkeit von Salzlösungen, bei Temperaturen unter 0° C. zu bilden und aufzulösen.

Die Formen des atmosphärischen Niederschlags in fester Gestalt treten vielfach in kristallinischem Zustand auf. Die dabei beobachteten Gestalten zeigen bei großer Mannigfaltigkeit als vorherrschende Form das gleichwinkelige Sechseck, so daß bei ihnen nur Winkel von 60° und 120° auftreten. Die Schneekristalle treten vielfach als Eisnadeln, zuweilen als Eisblättchen, am seltensten in körperlichen Gebilden auf, welche durch Verbindung mehrerer Schneesternchen als kristallinische Zwillingsbildungen entstehen. Nach den gewöhnlichen Vorstellungen gehen die in der Luft schwebenden Wasserbläschen bei ihrem Erkalten unter 0° in Eiskristalle über, welche sich in der freien Atmosphäre zu Schneeflocken vereinigen und beim Ansetzen an feste Gegenstände die Reif- und Rauhreifbildungen hervorbringen. Untersuchungen unter dem Mikroskop haben nun aber gezeigt (dieselben wurden von Aßmann auf dem Brocken ausgeführt), daß bei einer Temperatur von -10° keine Eiskristalle, sondern kleine Tröpfchen flüssigen Wassers (nicht Hohlbläschen) in der Luft schweben, und daß diese bei Berührung mit einem festen Gegenstand, im vorliegenden Falle mit einem ausgespannten Haar, momentan zu kleinen Eisklümpchen ohne jede kristallinische Struktur erstarren. Durch ein reihenweises Aneinandersetzen solcher Eisklümpchen entstehen dabei Bildungen, welche, mit bloßem Auge betrachtet, den Eindruck von Kristallen hervorbringen. Ebenso zeigte es sich, daß auch der Reis unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht kristallinisch ist, sondern aus einzelnen rundlichen Eisklümpchen zusammengesetzt wird. Bei Temperaturen, die nur wenig unter dem Gefrierpunkt lagen, bildeten sich regelmäßige, abgerundete, blattartige Formen, die, im ganzen genommen, den Eindruck eines Eiskristalls machten.

Außer diesen aneinander gewachsenen Eistropfen wurden aber auch wirkliche kristallinische Bildungen beobachtet, und zwar erschienen dieselben an den Kanten trockner Holzbrettchen in Form von sechsseitigen Prismen und auf der Erde in Form von feinen sechseckigen Platten und Säulen. Ferner wurden auch feine sechsseitige Blättchen, zuweilen auch Blättchen von parallelepipedischer Form oder ganze hexagonale Säulen beobachtet, welche aus der Luft herabfielen und teils einzeln, teils mit andern ähnlichen Blättchen sternförmig gruppiert waren. Äußerlich machten sich diese kleinen Eiskristalle schon dadurch bemerkbar, daß sie im Sonnenlicht ein intensives Glitzern verursachten, weshalb sie mit dem Namen Diamantstaub bezeichnet werden. Diese glitzernden Eiskristalle, welche in der Luft schweben, treten namentlich in den nördlichern Gegenden jeden Winter einige Male auf und gewähren besonders dann einen schönen Anblick, wenn sie sich in den untern Luftschichten befinden und der Himmel sonst wolkenlos ist. Auch die Beobachtungen des Rauhreifs zeigten unter dem Mikroskop zuweilen Bildungen, welche nicht aus Eisklümpchen bestanden, sondern kristallinische Struktur besaßen, bei welcher sich an einem Hauptstamm Seitenzweige unter einem Winkel von 60° ansetzten. Den Schluß der Zweige bildete meist eine hexagonale Platte, die sich zuweilen auch schon auf die Zweige selbst aufgesetzt fand.

Aus diesen Beobachtungen scheint sich zu ergeben, daß Reif und Rauhreif verschiedene Modifikationen desselben Vorganges sind. Ist der Gehalt an Wasserdampf in der Atmosphäre gering, so wird sich derselbe nur in den untersten Luftschichten, welche mit dem durch Ausstrahlung abgekühlten Erdboden in Berührung stehen, kondensieren und sich in Form von Reif am Erdboden festsetzen, während der Rauhreif entsteht, wenn der Wassergehalt so reichlich vorhanden oder die Temperatur so niedrig ist, daß seine Kondensation bis in die höhern Schichten heraufreicht. Die Wassertröpfchen befinden sich dabei in überkältetem Zustand und werden sowohl bei der Reif- als auch bei der Rauhreifbildung infolge der Berührung mit einem festen Gegenstand die Form von Eisklümpchen annehmen. Erst wenn die Temperatur so tief unter dem Gefrierpunkt liegt, daß das Wasser aus dem gasförmigen Zustand unmittelbar in den festen über-^[folgende Seite]