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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Explosivstoffe

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Explosivstoffe (Theorie).

Substanz zu betrachten, die sich im Zustand von beginnender Zersetzung befindet. In diesen Zustand werden, wie man jetzt weiß, alle durch Einwirkung von Salpetersäure auf organische Körper erhaltenen explosiven Substanzen, nicht etwa nur Schießbaumwolle und Nitroglycerin, versetzt, wenn der zur vollständigen Entfernung des Überschusses von Salpetersäure nötige Waschprozeß von dieser Säure auch nur Spuren zurückgelassen hat.

Erst das Studium der modernen E. hat erkennen lassen, daß die Explosionswirkungen explosiver Substanzen abhängig sind von der Art ihrer Zündung, daß insbesondere ein heftiger Stoß dieselben zu vollkommenster Kraftentfaltung bringt. Je nach der Art, wie das Dynamit gezündet wird, kann es sich ruhig und ohne Flamme zersetzen oder mit Lebhaftigkeit verbrennen oder explodieren, bald mäßig stark, bald mit außerordentlicher Heftigkeit. Die Substanzen, welche diese letztere Wirkung hervorbringen, sind Detonatoren genannt worden. Ihre Wirkungsweise hat zuerst Nobel (1864) bei seinen Arbeiten über das Nitroglycerin erkannt, und er hat das geeignete Verfahren gefunden, diese Substanz mittels einer Knallquecksilberkapsel mit Sicherheit zur Detonation zu bringen. Die Schießbaumwolle verhält sich, wie dies besonders Abel in Woolwich (1868) gezeigt hat, den verschiedenen Zündmitteln gegenüber ebenso verschieden wie das Nitroglycerin. Nach Berthelot läßt sich diese auffallende Verschiedenheit durch die thermodynamischen Theorien erklären. In der That, die Verschiedenheit der explosiven Phänomene hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der die Reaktion sich fortpflanzt, und von dem mehr oder weniger starken Druck, welcher die Folge davon ist. Die Rechnung lehrt freilich, daß das Aufhalten eines Gewichtes von wenigen Kilogrammen, das aus 0,25-0,5 m Höhe fällt, die Temperatur einer explosiven Substanz nur um Bruchteile eines Grades erhöhen könnte, wenn die entstandene Wärme sich in der ganzen Masse verbreitete, diese letztere würde so nicht eine genügend hohe Temperatur erreichen, z. B. 190-200° für das Nitroglycerin, eine Temperatur, auf welche plötzlich die ganze Masse gebracht werden muß, damit ihre Explosion eintritt. Man muß daher annehmen, daß der Druck, der infolge des auf die Oberfläche des Nitroglycerins ausgeübten Stoßes auftritt, zu plötzlich erfolgt, um sich gleichmäßig in der ganzen Masse zu verteilen, und daß die Umsetzung der lebendigen Kraft in Wärme nur in den ersten von dem Stoße erreichten Schichten stattfindet. Ist dieser Stoß hinreichend heftig, so können diese Schichten ebenso plötzlich auf 200° gebracht werden, und ihre Zersetzung wird sogleich erfolgen unter Entwickelung großer Mengen von Gasen. Diese Gasentwickelung erfolgt so plötzlich, daß der Körper, der den Stoß verursacht hat, seinen Platz noch nicht hat verlassen können; die rapid entwickelten Explosionsgase erzeugen einen neuen Stoß, der ohne Zweifel heftiger als der erste ist, auf die unter der ersten Schicht liegenden Schichten. Die lebendige Kraft dieses neuen Stoßes setzt sich in Wärme um in den Schichten, die er zuerst erreicht, und bringt diese zur Explosion, und diese Wechselwirkung zwischen einem Stoß, der eine lebendige Kraft entwickelt, die sich in Wärme umsetzt, und einer Erzeugung von Wärme, welche die Temperatur der erhitzten Schichten erhöht bis zu dem Grade, daß eine neue Explosion entsteht, die fähig ist, wiederum einen Stoß auszuüben: diese Wechselwirkung pflanzt die Reaktion von Schicht zu Schicht durch die ganze Masse fort.

Die Intensität des ersten Stoßes kann natürlich eine sehr verschiedene sein, je nach der Art, wie er hervorgebracht wird. Eine und dieselbe explosive Substanz kann also sehr verschiedene Wirkungen hervorbringen, je nach der Art, wie ihre Zersetzung bewirkt wird. Ebenso variieren die Wirkungen, je nachdem die Substanz für sich oder im Gemisch mit einer andern Substanz sich befindet, und welcher Art die Struktur dieser letztern ist. Das Dynamit, von Kieselgur aufgesaugtes Nitroglycerin, ist gegen einen gewöhnlichen Stoß wenig sensibel, explodiert aber durch den Aufschlag eines Geschosses und besonders durch den Stoß von explodierendem Knallquecksilber. Ein geringer Zusatz von Kampfer setzt seine Sensibilität für den Stoß noch weiter herab. Die Schießbaumwolle, wenn mit Wasser oder Paraffin imprägniert, kann nur durch eine mit trockner Schießbaumwolle geladene Zündpatrone, die selbst durch Knallquecksilber gezündet wird, zur Detonation gebracht werden. Bei der durch Essigäther oder einem andern Lösungsmittel gelatinierten nitrierten Cellulose, dem wesentlichen Bestandteil aller rauchlosen neuen Pulver, ist deren Sensibilität für den Stoß außerordentlich herabgesetzt.

Von der Heftigkeit des Stoßes und von der Größe der Arbeit, die er leisten kann, ist die Menge der in Wärme umgesetzten lebendigen Kraft abhängig. Diese beiden Faktoren sind verschieden bei den verschiedenen Explosionsstoffen. Die geeignetsten Detonatoren sind nicht immer diejenigen, deren Explosion augenblicklich erfolgt. Der Chlorstickstoff ist nicht sehr wirksam, um Schießbaumwolle zu detonieren; der gegen Reibung so empfindliche Jodstickstoff bleibt fast ohne Wirkung auf Schießbaumwolle, nur weil beide Körper weniger Wärme entwickeln als das Knallquecksilber. Die komprimierte Schießbaumwolle ist infolge ihrer Struktur weniger dicht als das Nitroglycerin, es muß daher der durch Stoß hervorgerufene Druck durch die vorhandenen Zwischenräume merklich abgeschwächt werden; daher ist auch die Schießbaumwolle viel schwieriger zur Detonation zu bringen als das Nitroglycerin. Durch zur Explosion gebrachte Schießbaumwolle kann Nitroglycerin detoniert werden, nicht aber Schießbaumwolle durch explodierendes Nitroglycerin. Die Schießbaumwolle verlangt zu ihrer Detonation den viel heftigern Stoß des reinen Knallquecksilbers, und auch das letztere ist weniger wirksam, wenn es frei liegend, als wenn es in einer Metallkapsel eingeschlossen zur Verwendung gelangt. Es ist weniger wirksam, wenn es in einer Kapsel von Papier oder Stanniol als in einer Kapsel aus Kupferblech benutzt wird; es ist noch weniger wirksam, wenn die Knallquecksilberkapsel nicht in unmittelbarer Berührung mit der Schießbaumwolle ist; es ist wirkungslos, wenn es sich in einer Federpose befindet, die elastisch ist. Ebenso ist unmittelbarer Kontakt nötig zwischen der Zündkapsel und der durch dieselbe zu detonierenden explosiven Substanz, andernfalls wird der von der Zündkapsel gelieferte Stoß durch die vorhandene Luftschicht abgeschwächt.

Das Studium der detonierenden Substanzen hat zur Erkennung noch einer andern Art der Fortpflanzung der Reaktionen im Innern einer explosiven Substanz geführt; diese Art der Fortpflanzung besteht in einer Wirkung in die Ferne und zwar durch Vermittelung der Luft oder fester Körper, die selbst keine chemische Veränderung erfahren. Man hat diese Explosionen Explosionen durch Influenz genannt. Auf dieses Phänomen ist besonders durch das Studium des Nitroglycerins und der Schießbaumwolle die Aufmerksamkeit gelenkt worden. Hierbei hat sich folgendes